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Mein Berlin: Keyif genießen

Notizen aus der globalen Stadt von Hatice Akyün

E ine Kolumne mit Leichtigkeit habe ich Ihnen versprochen. Was könnte beschwingter sein, als ein entspannter Spaziergang durch Kreuzberg? Ich zog mein schönstes Sommerkleid an, band meine Haare zum Zopf und machte mich auf den Weg, um Keyif, meine türkische Lieblingsbeschäftigung, zu erproben. Keyif ist für viele Nichtmuttersprachler schwer auszusprechen und für Muttersprachler noch schwerer zu übersetzen. Das Wörterbuch sagt: Wohlbefinden, Vergnügen, Unbeschwertheit, aber eine reine Übersetzung wird der empfundenen Bedeutung dieses Wortes nicht gerecht. Die Seele baumeln lassen, hat es meine Schwester zu übersetzen versucht. Nein, nein, das klingt nicht poetisch genug. Aber mit einem Beispiel könnte ich es Ihnen erklären: Ich brauche nur auf den Markt am Maybachufer zu gehen, die freundlichen Marktverkäufer zu beobachten, mir all die bunten Farben der Stoffe und das frische Gemüse anzusehen, die Gerüche der Gewürze einzuatmen und mir Sesamkringel, Schafskäse, Tomaten und einen Tee zu kaufen. Dann setze ich mich ans Ufer, breite alles auf einem Stück Zeitung aus und genieße mein persönliches Keyif. Gleich neben mir sitzt eine junge Mutter mit ihren zwei Kindern, die dasselbe tut. Vielleicht ist ihr Mann arbeitslos, vielleicht weiß sie nicht, wie sie ihren Kindern morgen neue Schuhe kaufen soll, aber jetzt schaltet sie einen Moment ab. Und ein älterer Herr, der mit seinen Freunden raucht und diskutiert, macht es auch. Jeder genießt Keyif auf seine Weise.

Auf meinem sommerlichen Spaziergang durch Kreuzberg kam ich auch an meinem Lieblings-Kebapci vorbei. Es ist kein Restaurant, auch kein Imbiss, es ist eben ein Kebapci. Der Kreuzberger Regisseur Neco Celik beschreibt das Hasir so: „Hasir gehört zu einem Kreuzbergbesuch dazu, das vierundzwanzig Stunden Einheimische, Zugezogene und Touristen abfüttert. Und damit das schneller geht, machte irgendwann gleich nebenan der zweite Laden auf. So etwas kann nur hier funktionieren. Zwei gleiche Läden, zwei Mal das gleiche Essen, zwei Besitzer, aber keine Konkurrenz.“

Und wer sich bis jetzt noch nicht in diesen Stadtteil und ihre Menschen verliebt hat, geht rüber ins Smyrna. Geröstete Pistazien, Dutzende von Teesorten und allerlei Süßigkeiten. Es gibt Sonnenblumenkerne gesalzen oder ungesalzen, Kürbiskerne, Mais und Kichererbsen, geröstet, natur oder überzogen mit Gewürzen. Und wenn die Dame des Hauses gerade da ist, liest sie dem Gast sein persönliches Kismet aus der Mokkatasse. Im Symrna nehme ich die längst vergessenen Gerüche meiner Kindheit wieder wahr. Ich kaufe eine Tüte Nüsse, setze mich auf die Oranienstraße und plötzlich tauchen Bilder vor meinem inneren Auge auf.

Neulich sah ich einen Beitrag im Regionalfernsehen. Weil die Redaktion offenbar nichts Spannenderes zu berichten hatte, ging es um das Wetter. Sie zeigten zwei Mal den gleichen Beitrag, jeweils mit einem anderen Text unterlegt. Im ersten Beitrag wurde ein Wehklagen auf Nässe, leere Schwimmbäder und verwaiste Straßen angestimmt. Im zweiten Beitrag ging es um das milde Klima und das Ausbleiben von Allergien. Es wurde vom vielen Platz in Freibädern und der Ruhe auf den Plätzen geschwärmt.

Ein Text ist ein Text, aber die Botschaft verstärkt sich über die Bilder. Die aber sind nur zu interpretieren über den Text. Und der Interpretationskorridor von Kreuzberg ist so breit, wie der Bosporus lang ist. Wer nichts verstehen will, sondern nur Bestätigung sucht, beraubt sich um etwas Neues und missbraucht andere nur als Kulisse zur Inszenierung seiner betonierten Weltsicht. Mit dieser Erkenntnis verließ ich Kreuzberg.

Oder wie es mein Vater sagen würde: Misafir kiligina göre agirlanir, lafina göre ugurlanir – Der Gast wird nach seinem Gewand empfangen und nach seinem Gesagten verabschiedet.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag.

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