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Nachruf auf Hildegard Löwe: „Wir sind schon viel herumgewürfelt worden“
Den Satz „Bitte setzen Sie sich!“ beherrschte sie auf Lettisch, Russisch, Jiddisch und Polnisch
Stand:
Bei Riga besaß ihre Großmutter ein Landgut, dort verbrachte Hildegard die Sommermonate, an die sie sich viele Jahrzehnte später noch erinnern sollte. Ein schönes Haus in traumhafter Landschaft, hinterm Grundstück der Fluss Gauja. Die Familie hatte es gekauft, nachdem der Großvater, ein Pfarrer, von den Bolschewiki ermordet worden war.
Die kleine Hildegard, drei oder vier Jahre alt, stürzte sich ganz ohne Hemmungen in den Fluss und wäre fast ertrunken. Diese Geschichte kannte sie nur aus Erzählungen, erinnern konnte sie sich, wie sie auf dem Rücken des Vaters den Fluss durchschwamm, sicher und geborgen.
Der Vater war Arzt in Riga. Neben Deutsch sprach er Lettisch, Russisch und Jiddisch, Polnisch verstand er immerhin. Ihr Leben lang beherrschte Hildegard den Satz: „Bitte setzen Sie sich!“ auf all diesen Sprachen. Den sagte sie damals zu den Patienten, wenn die am Morgen in die Praxis des Vaters kamen. Auch an den Spucknapf erinnerte sie sich, der zur Ausstattung des Wartezimmers gehörte.
Mit dem Hitler-Stalin-Pakt wurde Lettland sowjetisch. Die „Volksdeutschen“ mussten nun nach Deutschland, „heim ins Reich“. Mit dem Schiff ging es von Riga nach Stettin. Selbst das Klavier wurde in das neue Zuhause geliefert, eine großzügige Wohnung mit Gartennutzung in Posen. Beschämend war es für die Eltern, als die polnische Vormieterin kam und darum bat, ihr Strickzeug holen zu dürfen.
Die Scham wegen des unabsichtlichen Verrats
Der Vater konnte wieder als Arzt praktizieren, man lebte weiter standesgemäß. Aus dem angrenzenden Garten war Kinderlärm zu hören. Hildegard stieg auf eine Mülltonne und sah ein Mädchen in ihrem Alter. Die beiden freundeten sich an. Die Gartennachbarn – das war eine Pfarrfamilie mit sieben Kindern. Weil der Pfarrer hoffte, dass die Kinder des Arztes einen guten Einfluss auf seine wilde Bande hätten, öffnete er den Zaun, und es ging hin und her zwischen den Familien.
Als die Mutter sich einmal erkundigte, wie Hildegard der Kindergottesdienst gefallen habe, gestand diese, dass sie mit ihrer Schwester draußen gespielt habe. Die Schwester hatte zuvor der Mutter ausführlich von der Predigt erzählt und war jetzt der Lüge überführt. Die Scham wegen des unabsichtlichen Verrats blieb Hildegard bis ins hohe Alter präsent.
Mit dem Krieg kamen die Bombenangriffe auch nach Posen. Von den polnischen Patienten erfuhr Hildegards Vater, dass die Angriffe auf die Rüstungsbetriebe vor allem am Wochenende erfolgten, um die polnischen Arbeiter nicht zu gefährden. Die Situation spitzte sich zu, und so schickte er die drei jüngeren Kinder aufs Land. Dort war es wieder ein wenig wie auf dem Anwesen der Großmutter. Sie wohnten bei einer baltendeutschen Familie, die sich von der Abfindung ein Landgut gekauft hatte. Als die Front näher rückte, schickte man Hildegard weiter zu Verwandten in Mecklenburg. Dort war der Ton preußisch streng. Erst als die Mutter nachzog ging es Hildegard besser. „Wir sind schon viel herumgewürfelt worden“, sagte sie später.
Die zwei ältesten Brüder waren an der Front, und immer wenn im Radio die Musik von „Ich hatt‘ einen Kameraden“ erklang, lauschte die Mutter ängstlich, ob deren Namen bei der Verlesung der Gefallenen vorkam. Einer der beiden bekam die Gelbsucht und musste viel zu schwach zurück an die Front. Auf einem Gewaltmarsch wurde er ohnmächtig. Im Glauben, er sei tot, zog man ihm die warmen Sachen aus und ließ ihn liegen. Er überlebte, verlor allerdings Teile seiner Finger und war nun vom Kriegsdienst befreit. Hildegard strickte ihm Handschuhe für seine Stummelfinger. Er wurde später ein leidenschaftlicher Pastor und Klinikseelsorger.
Erstaunlich liebenswürdige Deutsche
Nach dem Krieg fand der Vater in der Nähe von Lübeck eine vakante Arztpraxis. Das Haus war groß, so dass die Familie dort erst einmal unterkommen konnte. Bis zur Rückkehr des Kollegen aus dem Krieg konnte er dort praktizieren. Danach hatte er Mühe, eine neue Praxis zu finden. Die Rheinländische Ärztekammer etwa hielt sich die Konkurrenz aus dem Osten vom Leibe. Erst in Friesland bekam er eine eigene Praxisstelle zugewiesen, und die Familie fand am Jadebusen ihr bleibendes Zuhause.
In Göttingen begann Hildegard zu studieren. Sie wollte unterrichten, Religion und Französisch. An der Theologischen Fakultät lernte sie ihren späteren Mann kennen und folgte ihm in die USA, wo er ein Promotionsstipendium hatte. Hildegard bekam keine Arbeitserlaubnis; so arbeitete sie schwarz als Babysitterin. Eine wunderbare Zeit: Begegnungen mit freundlichen Familien und eine Aufgabe, die ihr lag. Erstaunt bemerkten Amerikaner, dass sie nie damit gerechnet hätten, so liebenswürdige Deutsche kennen zu lernen.
Nach dem Scheitern ihrer Ehe musste Hildegard sich und die drei Kinder allein versorgen. Sie arbeitete als Grundschullehrerin, baute sich einen Freundeskreis auf, und auch für die Liebe gab es wieder Platz in ihrem Herzen.
In jeder Lage fand sie Dinge, die sie positiv in die Erzählung ihres Lebens einfügen konnte, selbst in den Verwerfungen des Krieges. Dabei beschönigte sie nicht. Immer wieder dachte sie darüber nach, inwiefern sich ihr Vater den äußeren Zwängen allzu sehr gebeugt hatte. War es wirklich nötig, als Arzt in die Nazipartei einzutreten? Hätte er stärker gegenhalten können, als es Ärger gab, weil der zwölfjährige Sohn im Unterricht darauf verwiesen hatte, dass Jesus auch Jude war?
In ihrer Familie wurde – anders als in den meisten anderen – offen über die Verbrechen der Nazizeit und das Mitläufertum gesprochen. Ein Leben lang beschäftigte Hildegard die Frage, welche Umstände dazu geführt hatten, dass ihre beste Freundin aus Posen sich mit 18 das Leben genommen hatte.
Ihr Engagement als Lehrerin speiste sich aus den Erfahrungen des Scheiterns und des Gelingens. Kinder zu guten Menschen zu erziehen, war ihr wichtiger, als Lehrpläne abzuarbeiten. Die Schüler dankten es ihr, einige hielten Kontakt weit über ihre Pensionierung hinaus.
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