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Ina Tamm

© privat

Nachruf auf Ina Tamm: Wann, wenn nicht jetzt!

Mit 45 entscheidet sie sich für ein Leben jenseits von „Mann“ und „Frau“. Mutter aber bleibt sie

Stand:

Das Schlüsselbund klimpert, ein Schlüssel klickt im Schlüsselloch, die Tür springt auf. „Haalloooo.“ Die kleine Melodie in schöner Stimmlage dringt durchs gesamte Haus in Berlin-Buch.

Von diesem „Hallo“ gibt auch es eine Variante auf der Arbeit: Tür auf, „Guuten Moorgen.“ Sie sind nicht zu überhören, ihre Begrüßungsständchen. Bis zur Chorprobe später, auf der sie dann richtig und ausgiebig singen wird, dauert es noch ein wenig. Jetzt tritt Ina erst einmal ein und ist da, ganz und gar präsent. Schlank, wendig, wirbelig, die Haare kurz, auf ihrer rechten Hand ein Oktopus, die anderen Tattoos sind von Pulli und Jeans verdeckt.

Auch früher, vor 2014, tritt sie schon mit dem jubelnden „Hallo“ und „Guten Morgen“ durch eine Tür, aber ein brauner Bob schmiegt sich sanft in ihren Nacken, die weich fallenden Kleider, die sie trägt, verdecken noch keine Bilder auf ihrer Haut.

Zwischen dem Kleider- und dem Jeansabschnitt liegt eine Phase des Wandels. Eines Wandels, der Rumoren verursacht und auch Schmerz, das bleibt selten aus, dennoch glückt der Wandel. Ina beginnt, nach zwei Ehen und zwei Kindern, einem Zwillingspaar, Frauen zu lieben. Um genauer zu sein: Sie versteht sich fortan als lesbisch-queer, legt sich gar nicht mehr auf die Kategorien „Mann“ und „Frau“ fest.

Sie trennt sich vom Vater ihrer Kinder, es kommt auch zu Streit, Verletzungen, aber sie überwinden das, entscheiden sich, denn die Freundschaft vergeht nicht einfach, weiterhin gemeinsam mit den Kindern in ihrem Haus zu leben. Sie müssen sich zurechtfinden, stehen oft ein wenig verlegen nebeneinander, wenn der eine sich einen Tee, die andere einen Kaffee kocht. Aber das gibt sich, die Leichtigkeit kehrt zurück.

Geschirr und Schmetterlinge von Hutschenreuther

Mit dem Schwung, mit dem Ina in einen Raum hineintritt, tritt sie auch in die Welt hinaus. Doch dafür brauchte sie eine Weile, denn zunächst einmal steckte sie fest, in einem Zimmer in der kleinen Stadt Tirschenreuth in der Oberpfalz. Dieses Zimmer, in dem man, waren beide Betten darin ausgeklappt, kaum noch einen Schritt tun konnte, teilte sie sich bis weit in ihr Teenageralter hinein mit ihrer Großmutter. Inas Eltern arbeiteten im Schichtdienst bei „Hutschenreuther“, selbstverständlich waren die Regale der engen Wohnung voll mit dem Geschirr aus der Porzellanfabrik wie auch mit Figuren flatternder Schmetterlinge. Die Handbewegung von früher bleibt: Wie ihre Eltern dreht sie jeden Teller um und schaut nach dem Herstellerzeichen.

Erst nachdem ihr sieben Jahre älterer Bruder das Haus verlässt, muss sie nicht mehr mit der Großmutter in einem Zimmer schlafen. Ein erster, winziger Schritt in eine Eigenständigkeit. Ein zweiter nach der zehnten Klasse: Sie geht auf eine Hauswirtschaftsschule und danach auf eine Fachschule für Erzieherinnen im noch weiter entfernten München. Mit 21 heiratet sie Herrn Tamm und wird den Namen, den sie ausgesprochen cool findet, beibehalten, Ina Tamm, wie ein Rhythmus, der nach vorn drängt. Mit Herrn Tamm erweitert sich der Radius, sie reisen mit Interrail oder einem Campingbus durch Europa und bis nach Marokko. Lange hält die Ehe trotzdem nicht.

Mit einer Freundin fährt sie übers Wochenende nach Berlin, sie wollen einen Freund der Freundin, den Ina nicht kennt, besuchen. Oliver kommt mit seiner Vespa, um die beiden nacheinander abzuholen. „Wie der Oliver da stand…“ Sie ist begeistert.

Sie heiraten, die Zwillinge werden geboren, sie bauen das Haus in Buch. Ina arbeitet bei „Wildwasser“, einem Verein gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen, betreut in der „Krisenwohnung“, zwölf von ihnen. Doch sie und ihre Kolleginnen sehen, dass das nicht reicht, dass ein Ort hermuss, an dem diese Mädchen und Frauen länger unterkommen können. Sie gründen „Donya“, das persische Wort für Welt, in einer Villa in Wedding mit neun Zimmern. „Donya“ nimmt Jugendliche auf, die andere Einrichtungen ablehnen, zu zerrüttet das Leben dieser jungen Leute, zu schwierig der Umgang mit ihnen. Ina hört zu, tröstet, organisiert, übernimmt ab 2017 die Teamleitung des Hauses. Trotz der Diagnose 2015. Scheißkrebs. Sie hätte eine andere Stelle annehmen können, eine weniger anstrengende, wie schon damals, als die Zwillinge geboren wurden. Aber sie bleibt weiter bei „Donya“, beide Male.

Einen Schnitt vollzieht sie 2015, nach der Diagnose, allerdings doch. Jetzt, wann, wenn nicht jetzt! Leben, wie sie es will. Was nicht heißt, das betont sie ausdrücklich, dass ihr Leben davor das falsche gewesen wäre. Sie wirft sich geradezu in die neue, queere Welt. Tanzt durch die Nächte. Läuft auf Demos mit. Liebt die eine oder andere. Und dann Steffi. Doch das Nest im Haus in Buch bleibt.

Sie lässt sich zwei Oktopusse tätowieren. Weil, sagt sie, ein Oktopus nicht lang lebt, neun Gehirne – eins im Kopf und acht in den Armen – und drei Herzen besitzt.

Sie ist da, ganz und gar präsent, für die Zwillinge, für die Freunde. Als eins der Kinder beim Klauen erwischt wird, meckert sie nicht. Sie erzählt, dass sie früher auch schonmal was mitgehen ließ. Jeden zweiten Tag fährt sie zu einer Freundin, die einen solchen Kummer hat, dass sie sich kaum noch bewegen kann.

2022 ist der Krebs wieder da. Metastasen im linken Arm. Sie will, dass der Arm wegkommt. Er wird amputiert.

Sie liegt im Bett, sie streicht mit der rechten Hand über die Gesichter der Zwillinge. Sie schaut auf die Malven und den Mohn vor dem Fenster. Auf den Apfelbaum. „Wenn ich alt bin, werde ich unter ihm sitzen“, hatte sie früher gesagt. Aber Oktopusse leben nicht lang.

Die Freunde erstellen einen Plan und organisieren den Alltag. Der Schlüssel zum Haus liegt draußen vor der Tür.

Auch Olivers Eltern kommen, aus Baden-Württemberg kommen sie, aus einer Welt, die mit Inas wenig zu tun hat. Doch sie sind da, sitzen auf dem Sofa, neben ihnen und um sie all diese bunten Menschen. Sie gehören jetzt zu ihnen.

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