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Nachruf auf Lothar Ganz: Aber er war ja jung, was soll’s
Was ist schon Zeit? Sie verstreicht ohnehin, also kann man auch sorglos mit ihr umgehen.
Stand:
Bedeutet es etwas, sich Zeitmesser an die Wand zu hängen, aufgereiht wie Perlen an einer Schnur, ohne damit jemals die Zeit zu messen? Es sind alte Taschenuhren ohne großen Wert, dafür mit hübschen Zifferblättern und Gravuren. Sie sind stehengeblieben, jede in einem anderen Moment. Um sie herum hängt eine Anzahl weiterer Gegenstände, eine gebogene, bunt gestreifte Zuckerstange, zwei Papierschiffchen, ein rotes Herz, ein Schlüsselanhänger aus Muscheln, ein Miniaturweihnachtsmann. Es sieht aus, als hätte ein Kind seine Schätze gut sichtbar platziert, doch es war Lothar, über 70, der einst den Beruf des Dekorateurs erlernt hatte.
Er war der Jüngste unter zehn Geschwistern. Er nahm die Knopfkiste seiner Mutter und spielte damit still vor sich hin, sortierte die Knöpfe nach Farben, stapelte sie, schob sie hin und her. Bis ins Alter blieb er verspielt, stand in einem Legoladen, zeigte auf diesen Kasten und auf jenen, sagte zum Verkäufer, er suche etwas für die Tochter, kaufte die Kästen, trug sie nach Hause und baute eine Legostadt, fünf Meter die Wand entlang, in den Raum hinein auf Tapeziertischen, formte Berge aus Zeitungspapier und Klebstoff, fügte Tunnel und Brücken aus dem Modelleisenbahnsortiment hinzu. Wenn ich zu ihm kam, erzählt seine Tochter Sarah – ihr Vater und ihre Mutter hatten sich kurz nach ihrer Geburt getrennt – gab es immer Chips und Sprite und Kabelfernsehen, und das mit dem Zubettgehen handhabte er eher locker.
Sein erstes Schlagzeug
Was ist schon Zeit? Sie verstreicht ohnehin, also kann man auch sorglos mit ihr umgehen. Die alten Taschenuhren an der Wand ticken schon lange nicht mehr, als hätten die Zeiger in Lothars Kinder- und Jugendjahren aufgehört, unermüdlich das Vergehen der Stunden und Minuten anzuzeigen.
Das Knopfspiel wich später dem Schlagzeugspiel, er kaufte sich sein erstes Schlagzeug heimlich von dem Essensgeld, welches ihm seine Mutter täglich zugesteckt hatte, übte, ohne dass sie etwas davon mitbekam, und wurde immer besser. Er gründete Bands, drei insgesamt, sie ließen sich Pilzköpfe schneiden, er nannte sich und seine Bandkollegen einmal „die Aushilfsbeatles aus Moabit“. Eigentlich mochte er mehr die Stones. Sie gingen auf Tourneen, bis in die Schweiz, seine Haare wurden länger, was dazu führte, dass ihn seine Brüder – zwischen ihm und dem ältesten lagen 20 Jahre – mit ihren ordentlichen Frisuren nicht mehr grüßten, wenn sie ihm auf der Straße begegneten. Während der Proben und vor den Auftritten wurde eine Menge getrunken, einmal fiel Lothar vollkommen berauscht kopfüber in sein Schlagzeug. 1967 löste sich seine letzte Band auf.
Das Geld war knapp, die Zeit nicht. Aber er war ja jung, was soll’s. Oft saß er einfach so in Kneipen rum. Da kam ein Typ und fragte ihn, ob er „für fast keine Arbeit“ 2000 Mark verdienen wolle. Na klar, was gibt’s zu tun? Nach Rumänien fahren, jemandem, der aus dem Land fliehen möchte, seinen Pass geben, danach zur deutschen Botschaft gehen, sagen, man habe den Pass verloren, um dann, mit Botschaftshilfe, wieder nach Hause zu fahren. Toller Plan, mach ich.
Lothar machte sich auf den Weg, gemeinsam mit einem Freund. In Rumänien übergaben sie ihre Ausweispapiere zwei Männern. Allerdings handelte es sich bei denen um ein Zwillingspaar.
Die Zwillinge begaben sich mit ihren neuen, fremden Pässen an die Grenze, die Grenzer schauten auf die Namen, Lothar Ganz und Gerd Noack, schauten in die fast identischen Gesichter... Lothar und sein Freund wurden aufgegriffen und ins Gefängnis gesteckt, für zweieinhalb Monate, in denen sie Kisten zusammenzuhämmern hatten, bis eine Amnestie für Ausländer erlassen wurde. Als Lothar in Berlin losgezogen war, hatte er einen rauschenden Bart und lange Haare, als er zurückkehrte, war sein Kopf kahlrasiert.
Er dekorierte jetzt Schaufenster bei Schuh-Neumann in Teilzeit, die restlichen Tage putzte er Taxen. Unbekümmert ließ er die Zeit verstreichen, wenn er auch in sein Tagebuch eintrug: „Sorgen wegen des Geldes.“ Er lieh sich welches, ab und an auch von seiner Teenagertochter.
Nie Dauerhaftes
Er hatte Sarahs Mutter sehr geliebt, zwölf Jahre lang waren sie glücklich miteinander, bis sie es nicht mehr waren, er hatte sie oft fotografiert und überall ihre Bilder aufgehängt. Es gab Frauen danach, nie Dauerhaftes, Sarah erinnert sich schemenhaft an Biggi und Silke und Babette und an einen Dackel, den eine von ihnen besaß.
Er nahm Djembé-Unterricht mit Sarah, verkehrte in afrikanischen Trommlerkreisen in Kreuzberg, die Profimusiker, die ihn hörten, sagten: Mann, der kann Rhythmus.
Er kaufte hunderte Platten bei Zweitausendeins. Er dekorierte seine Wohnung, hängte alles an die Wände, was man an Wände hängen kann. Fuhr in stillgelegte DDR-Krankenhäuser, kam mit Laborglasgeräten zurück und befüllte sie mit buntem Sand. Kaufte Glasnegative aus der Kolonialzeit, zog sie ab, rahmte die Bilder. Platzierte Blechautos und Blechenten. Einen Globus in einem Blumentopf. Eine enorme Papppuppe baumelte von der Decke. Und doch war seine Wohnung, das ist wichtig, keine wirre Krimskramshalde. Eher das Kinderparadies eines Erwachsenen.
Er hockte mit seinen Enkeln auf dem Boden und spielte, dachte sich dieses aus und jenes, lachte, vergaß die Zeit.
Die ihn dann, mit aller Wucht, bedrängte. Er wurde krank, Krebs, mit Metastasen in den Knochen. Dann die Pandemie. Die Einsamkeit. Ohne Corona wäre er unter Leuten gewesen. Als man wieder rauskonnte, saß er oft im Café „Zaunkönig“, eine Art Nachbarschaftstreff in Wedding. Eigentlich gab es niemanden, der ihn nicht mochte. Hundert Menschen sind zu ihm, zu seiner Beisetzung gekommen.
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