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Nachruf auf Lothar Kompatzki: „Immer dicke durch, hinten wird es helle“
Es schien ihm tatsächlich möglich, alles zu schaffen, ob nun mit Ausbildung oder ohne.
Stand:
Kennedy ist tot“, sagt Lothar, „jemand hat ihn erschossen in Dallas.“
Es ist der 22. November 1963, er steht mitten auf einer Straße im Coconino County, Arizona, in der Ferne der Grand Canyon, und er sagt diesen Satz, leicht nach unten gebeugt, durch ein offenes Autofenster zu einem Mann, dessen Ausdruck in zwei Teile zerfällt: Der Mund schmerzlich verzehrt, die Augen ungläubig aufgerissen. Die Frau neben dem Mann beugt sich zur Seite, über das Bein des Mannes hinweg und presst ihre Finger auf die Lippen. Neben Lothar steht ein Kameramann und nimmt die Szene auf. Im Lauf des Tages wird er noch viele ähnliche Szenen aufnehmen.
Die beiden gehören zu einem kleinen Filmteam aus Berlin, Deutschland (in den USA gibt es 26 Berlins). Sie sind hier, um über Land und Leute zu berichten. Was sie ja jetzt auch machen, nur auf eine unvorhergesehene fiebrige Art.
Dass auf Kennedy ein Attentat verübt worden war, hatte Lothar kurz zuvor von seiner Freundin Evelyn erfahren, die drei Jahre später seine Frau sein sollte. Evelyn hatte in Berlin AFN, den amerikanischen Radiosender, eingeschaltet und immer wieder die Worte Kennedy und assassination gehört, war sich aber wegen ihres schmalen Englischs nicht sicher, richtig verstanden zu haben. Sie rief Lothar an: „Ich glaube, Kennedy ist tot.“ – „Ach, Quatsch“, erwiderte er erstmal. Und machte das Radio an...
Er fährt mit dem Filmteam los und hält die Leute in ihren Autos auf der Straße an. Er erzählt ihnen von den drei Gewehrschüssen um 12 Uhr 30. Manche weinen, manche bleiben stumm vor Entsetzen. Alles wird aufgenommen.
Sollten sie Leute festnehmen?
Dann steht ein Mann mit Stern auf der Brust neben ihnen, Cecil Richardson, Sheriff des Coconino County. „Was machen sie hier?“
Er nimmt die Filmcrew fest. Prüft dann die Personalien. Aha, Berlin, West Berlin. Er überlegt. Von diesen Typen scheint keine Gefahr auszugehen. Im Gegenteil, sie gefallen ihm. Kurzerhand ernennt er sie allesamt zu Hilfssheriffs. Warum genau, ist nicht überliefert, Lothar Kompatzki, hat aber das amtliche Papier aufbewahrt: „This is to certify that Lothar Kompatzki holds a commission as honorary deputy sheriff of Coconino County, Arizona. Issued this 22 day of november 1963.“
Man erkennt, dass dort zuerst Kompatzi stand, über das i hat jemand ein k getippt. Ein Vorgang in aller Eile, wahrscheinlich mehr Sympathiebekundung als tatsächliche Ausstattung mit Kompetenzen. Schwer vorstellbar, dass sie durch die Gegend fahren und, gemäß ihres neuen Status’, Beweise sichern oder gar Leute festnehmen sollten. Gut möglich, dass das Dokument ihnen schlicht ermöglichen sollte, in dieser angespannten Situation unbehelligt von einem Ort zum anderen zu gelangen.
Mit den neuen Ausweisen rasen sie nach Dallas, das etwa 1600 Kilometer entfernt liegt. Sie filmen dort die Strecke, auf der Kennedy entlangfuhr, den Raum, von dem aus Lee Harvey Oswald geschossen haben soll. In der Tiefgarage des Polizeihauptquartiers sehen sie den dürren, bleichen Lee Harvey Oswald. Als der Nachtclubbesitzer Jack Ruby eintrifft, stehen sie draußen. Um 11:21 Uhr hören sie einen Schuss. Ruby hat Oswald getötet.
Lothar hatte keine Ausbildung in dem, was er da tat, weder in Journalismus noch in Filmproduktion. Jedenfalls besaß er kein amtliches Papier mit Stempel, das eine Ausbildung hätte belegen können. Als er eine hätte machen können, war Krieg, Hitler verheizte die letzten Jungs. Um nicht an die Front im Osten geschickt zu werden, meldete Lothar, 17 und ohne Schulabschluss, sich zur Marine, kam nach Norddeutschland, wo man seinen kleinen Trupp zu einer Einheit der Waffen-SS beorderte. Aber er hatte die Ruhr, so schwer, dass er nicht mitkonnte. Von seiner Einheit kehrte keiner zurück.
Und nun? Was sollte er tun, als der Krieg vorbei war? Land und Köpfe in Trümmern. „Sieh dich um“, sagte sein Vater, „überall Ruinen. Ist doch klar, was du wirst: Maurer.“ Das war keine Anweisung, das war Pragmatismus. Das Glas ist halbvoll und nicht halbleer, der Leitsatz des Vaters, den er an den Sohn weitergab.
Wieder und wieder diese eine Geschichte, die erzählen sollte, dass man es schaffen kann, wie schlimm es auch steht: Der Vater war im Ersten Weltkrieg in ein sibirisches Gefangenenlager gekommen. Er hatte dort schnell die russische Sprache gelernt, was den schriftunkundigen Wachhabenden imponierte. Sie ließen sich Liebesbriefe von ihm schreiben und aus der Zeitung vorlesen. Außerdem spielte er ein bisschen Geige und tanzte recht hübsch. Aber nach sieben Jahren hatte es gereicht, von Entlassung war keine Rede gewesen, deshalb, so der Bericht, hatte er sich selbst entlassen, sich irgendein Papier ausgestellt und war losgelaufen, von Sibirien bis Tilsit an der litauischen Grenze, wo er herkam, 4000 Kilometer. Er habe sich einen Sack getrockneter Fische über die Schulter geworfen und sei von Bahnstation zu Bahnstation gewandert, wo er die Fische verkaufte, habe zwischendrin bei einem Pelztierhändler gearbeitet und sei irgendwann zu Hause angekommen. Er heiratete, bekam eine Tochter, Lore, und einen Sohn, Lothar.
Der prägte sich die Vatergeschichte, die Erzählung davon, dass man so viel schaffen kann, so tief ein, dass es ihm tatsächlich möglich schien, alles zu schaffen, ob nun mit Ausbildung oder ohne. Und so fügte er dem ersten Leitsatz einen zweiten hinzu: „Immer dicke durch, hinten wird es helle.“
Die Maurerei ließ er bald bleiben, zu öde, nichts für den Geist. Weil er nebenher ein bisschen Theater spielte und schon zu Schulzeiten als „der Gedichtaufsager“ galt, bewarb er sich 1946 am „Deutschen Theater-Institut Schloss Belvedere“ in Weimar, zusammen mit 700 Anderen. 14 wurden genommen, einschließlich seiner Person.
Zur Laufbahn eines Dompteurs ist eine Tätigkeit als Tierpfleger erforderlich
1949 las er eine Anzeige des „Circus’ Apollo“, der einen Löwendompteur suchte. Lothar bewarb sich; ein paar Tage darauf erhielt er dieses Schreiben: „Leider müssen wir Ihnen negative Nachricht übermitteln. Zu Ihrer persönlichen Orientierung möchten wir Ihnen mitteilen, dass zur Laufbahn eines Dompteurs zunächst eine mehrjährige Tätigkeit als Tierpfleger erforderlich ist. Wir hoffen, wenn wir Ihnen auch einen abschlägigen Bescheid übermitteln mussten, Ihnen doch einen wertvollen Hinweis gegeben zu haben.“
Na gut, dann weiter. Ans „Berliner Ensemble“, zu Brecht. Er wurde dessen „zwölfter Assistent“, wie er scherzhaft sagte. Als zwölfter Assistent hatte man sich ab und an niederzuknien, um dem Meister die Schuhe zuzubinden.
Er spielte dann kleinere Rollen am „Deutschen Theater“. Gewohnt hat er bei einer Witwe und abends ist er mit Klaus Kinski durch die Straßen gestreift, während dieser im Vorübergehen die Blumenblüten auf niedrig gelegenen Balkons köpfte. Lothar tingelte mit einem Puppentheater über die Dörfer und dachte sich ein Verkehrserziehungsspiel mit Puppen aus, das er vor Kindern zeigte.
Im Steglitzer „Titania-Palast“ sah er Marcel Marceau. Ein Schock, Begeisterung! Das wollte er auch machen. Nach der Vorstellung lauerte er Marceau auf: „Darf ich sie in Paris besuchen?“ – „Kommen sie morgen in mein Hotel.“
Lothar öffnete am nächsten Morgen die Hotelzimmertür, Marceau schlief noch, neben sich unterm Laken eine Dame. Er stand auf und kritzelte seine Pariser Adresse auf einen Bierdeckel. Und Lothar machte sich, wir sind im Jahr 1953, auf den Weg, mit 70 Mark in der Tasche. Marceaus Schule war kostenlos, auch die Kammer unterm Dach. Lothar aß für ein paar Centimes in der Uni zu Mittag, er sagte, wenn er angesprochen wurde: „Ça va, ça va“, was so ungefähr das Einzige war, was er auf Französisch konnte. In der „Compagnie de mime Marcel Marceau“ kam es auf Worte ja nicht so an.
Zurück in Berlin, gründete er ein eigenes Pantomimenensemble, trat am „Hebbel-Theater“ auf und in einer Hamlet-Inszenierung unter Fritz Kortner. Er tourte durch die DDR. Er erhielt eine Hörspiel-Assistenz beim Nordwestdeutschen Rundfunk, er übernahm die Regie von Hörspielen, schrieb Hörspiele, machte weiter Theater, drehte erste Fernsehdokumentationen, erst über Berlin, dann über Italien, Frankreich, Skandinavien. Alles immer parallel, fast alles ohne Ausbildung.
Auf einem Stuhl mit Rollen
Am 12. August 1961 filmte er mit einem Kamerateam die Berliner Sektorengrenze, am Tag darauf wurde sie dichtgemacht. Sofort rannte er ins Studio, schnitt das Material. Der Film „Die Mauer“ erhielt den „Jakob-Kaiser-Preis“: 10 000 Mark.
Er saß auf einem Stuhl mit Rollen unten dran und glitt, weil er immer in Bewegung, immer überall sein musste, zwischen den Schneideräumen des „Sender Freies Berlin“ hin und her, er galt als „Darling vom Sender“ und auch als Schürzenjäger, was größtenteils Unsinn war, er unterhielt sich schlicht sehr gern mit Frauen, strahlte eine Weltläufigkeit aus, konnte mit Frauen einfach gut befreundet sein, nahm sich Zeit, selbst wenn er keine hatte. Er liebte auch die eine oder andere, zwei Mal hat er geheiratet, eine Tochter gab es, beide Ehen gingen auseinander. Immer dicke durch, hinten wird’s helle.
Evelyn arbeitete auch beim SFB. Sie sagt: „Ich fand seine Sprüche blöd. Mir war das lästig. Immer stand er überall rum.“ Sie nahm Umwege im Haus, um ihm nicht zu begegnen. Bis sie ihm nicht mehr ausweichen konnte, weil sie für ein gemeinsames Projekt eingeteilt waren. Sie kam in das Büro und sah ihn, wie er lässig auf dem Sessel fläzte und telefonierte, und stellte fest, dass ihr dieser Typ wohl doch gefiel, sehr sogar.
Er drehte weiter, er reiste weiter, Asien, Afrika, Amerika. Er übernahm die Synchronregie für Spielfilme, übersetzte Drehbücher in lippensynchrone Versionen. „Haben sie das gelernt, Herr Kompatzki?“ – „Nein.“
Wenn’s jetzt nicht klappt, dann beim nächsten Mal.
Er schrieb und führte Regie für 400 Folgen der deutschen „Sesamstraße“ und sagte irgendwann zu Evelyn: „Jetzt müssen wir aber einen Farbfernseher für die Kinder kaufen.“ Er inszenierte „Die Welt, in der wir beben“ für „Die Stachelschweine“. Unternahm die erste dokumentarische Langzeitbeobachtung im Westdeutschen Fernsehen, „Besser als ihr Ruf“, in der acht Berliner Oberschüler über persönliche Probleme und ihre Sicht auf die Welt sprachen.
1973 bestieg er ein Flugzeug, wohin, weiß niemand mehr, und nahm zufällig neben einem Mann vom Fernsehen Platz. „Sie wollte ich ohnehin anrufen“, sagte der Mann. Und bot ihm die Leitung des Kulturprogramms des SFB an.
„So viele irre Begabte hatte er um sich“, sagt Evelyn. Krzysztof Kieślowski, zum Beispiel. An Kieślowski und dessen Filmkunst hatte Lothar einen Narren gefressen. Wollte unbedingt, dass der Sender den Zyklus „Dekalog“, der sich auf die Zehn Gebote bezieht, mitproduziert, und schaffte es dann auch, Geld aufzutreiben. „Dekalog“ erhielt einen Preis in Venedig, unter anderem.
Außerdem betrieb Lothar Marathonlauf, Windsurfen, Tiefseetauchen.
Und seine vier Kinder? Hatte er auch Zeit für sie? Na ja. Einerseits, andererseits. „Er war nicht der Spielepapa“, sagt eine Tochter. Aber eben doch da. Mit seiner Leichtigkeit. „Mach dir keine Sorgen. Wenn’s jetzt nicht klappt, dann beim nächsten Mal.“ Hinten wird’s helle…
Er erhielt einen Lehrauftrag für Publizistik an der FU. Sein Kommentar: „Ich hab kein Abi, aber für eine Dozentenstelle hat’s gereicht.“ Einmal im Jahr veranstaltete er ein Fest für die Studenten in seinem Garten.
In diesem Garten, hinten, steht ein kleines Gartenhaus. 2015 nahmen die Kompatzkis dort ein junges Paar aus Syrien auf. Ein wenig später zogen die beiden ins Haupthaus und gehörten zur Familie. Das tun sie bis heute.
Am 1. März 2025 sitzt Lothar im Garten. Er ist alt, körperlich. Er sitzt dort, jemand filmt ihn. Er sagt: „Ich ging in die Welt und hatte nichts und habe alles bekommen.“
Am 18. April, Karfreitag, stirbt das Glückskind in seinem Haus. Am Ostersonntag ist die gesamte Familie da. Das Bestattungsauto steht draußen, sie heben ihn auf eine Bahre und tragen ihn hinaus und singen den Reisesegen „Möge die Straße uns zusammenführen“.
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