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Berlin: Ring frei für die Rentner

Singen, Sport treiben, Theater spielen: In Berlin kann man sehr alt werden, ohne sich zu langweilen

Die Galle trägt ein giftgrünes Kleid und einen Turban. Statt die Steine wegzuräumen, wie es sich gehört, baut sie lieber Skulpturen daraus. Auch der Magen hat zu meckern: „Sauer“ sei er, ständig müsse er aufräumen und putzen. Im „Theater der Erfahrungen“ dürfen die Organe eines alten Menschen erzählen, warum sie nicht richtig arbeiten. Auf die Idee sind die Schauspieler gekommen. Sie sind zwischen 50 und Mitte 80 und greifen ihre eigenen Themen auf: Zipperlein, Generationenkonflikte, Gesundheitsreform, Tabletten am Morgen, die Liebe. Nach der Aufführung sitzt die Galle am Tisch, trinkt Mineralwasser und stellt sich vor: Marianne Kirschke, 71, seit 15 Jahren dabei. „Die Füße tun schon manchmal weh“, sagt sie, „aber deswegen lässt sich keiner von uns vertreten. Wir spielen auch halbtot.“ Ihre Augen funkeln. „Manchmal fühle ich mich gesünder als früher. Vielleicht, weil ich nur noch mache, was mir Spaß bringt.“

Das „Theater der Erfahrungen“ ist nur eines von vielen Angeboten in Berlin, dass sich ausschließlich an „Ältere“ richtet. Beziehungsweise an „Best Ager“, die „Generation 50plus“, die „Jungen Alten“ oder welche Begriffe auch immer benutzt werden, um das Alter nicht beim Namen zu nennen. Steptanz, PC-Kurse, Studium oder Stadtführung – Berlin hat auf die Bedürfnisse der Älteren reagiert. Studien haben festgestellt, dass ein heute 70-Jähriger körperlich und seelisch etwa zehn Jahre jünger ist als ein durchschnittlicher 70-Jähriger vor 20 Jahren. Die Gründe sind gesündere Ernährung, ein zumindest körperlich weniger anstrengendes Berufsleben und bessere medizinische Versorgung. Im öffentlichen Bewusstsein hat sich die Grenze, die den Eintritt ins „Alter“ markiert, deutlich nach oben verschoben.

Das „Klischee der ewig Brigde-Spielenden“ gehöre endgültig abgeschafft, sagt Marianne Kirschke vom „Theater der Erfahrungen“. Dabei mag sie Bridge sogar, nur eben nicht ausschließlich. Wenn sie ihren Wochenplan herunterrattert, klingt das nach einem straffen Pensum. Sport, Lesezirkel, Theater, Vorträge. Kirschke wohnt in Pankow, aber für ihre Aktivitäten klappert sie mehrere Bezirke ab. Als „glücklichen Unruhestand“ bezeichnet Wolfgang Stapp die Lebensphase nach der Arbeitszeit. Er ist Vorsitzender der Friedrich-Spee-Akademie, eine „anspruchsvolle Bildungsakademie für die zweite Lebenshälfte“. Die vielen Seniorenangebote in der Stadt seien alles andere als „Kaffeefahrten, bei denen dauernd Pause gemacht wird“. Gerade in der zweiten Lebenshälfte, so Stapp, könnten viele das Lernen mehr genießen als früher. An den Berliner Universitäten sitzen viele Ältere zwischen gerade der Pubertät entronnenen Studenten.

In 50 Jahren wird jeder dritte Berliner über 60 sein. Die klassische „Bevölkerungspyramide“ mit wenigen Alten und vielen Jungen gibt es nicht mehr. Jetzt spricht man von „Zigarre“. Darauf hat die Wirtschaft längst reagiert. Die Werbung adressiert verstärkt die Älteren. „Auf die beliebteste Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen kann man heute mindestens zehn Jahre drauflegen“, sagt Nicola Siegel. Sie muss es wissen, denn die Gründerin der Berliner Agentur „Senior Models“ vermittelt ältere Gesichter für Werbespots und Foto-Shootings. Die Nachfrage ist groß, aus Marketing-Sicht könnte die Zielgruppe nicht besser sein: Die „Best Ager“ haben eine größere Kaufkraft als die Jüngeren und mehr Zeit zum Einkaufen oder Verreisen. Also organisieren Reisebüros Studienfahrten für Rentner, Fitness-Studios zimmern Angebote für „55 plus“. Und der Berliner Landessportbund druckt ein immer umfangreicheres Extra-Programm „Seniorensport“. Einer der Kurse heißt „Boxen ab 60“. Zwei Mal die Woche treffen sich ehemalige Profiboxer in einer Lankwitzer Sporthalle. Während des Trainings wird kaum gesprochen. Nur das Flappen des Springseils auf dem Hallenboden ist zu hören, das Geräusch trappelnder Füße, das Klatschen von Lederhandschuhen auf dem Sandsack. Einer stemmt Gewichte, ein anderer macht Liegestütze, der nächste springt Seil. Mit seinen blauen Shorts und dem bedruckten T-Shirt könnte der 72-jährige Heinz Goslinowski locker zehn Jahre jünger geschätzt werden. Seine Einstellung zum Älterwerden: „Ich mache Sport, so lange es geht.“ Die anderen nicken. Für Manfred Bittschier hilft das Boxen auch gegen Depressionen oder Wut. Am Sandsack fliegen die Fäuste des 67-Jährigen nur so durch die Luft. „Es klingt simpel, aber es stimmt: Zum Anfangen ist es nie zu spät“, sagt Bittschier.

Ein Blick in die Geschichte gibt ihm Recht: Viele haben hochbetagt noch mal richtig losgelegt. Michelangelo entwarf die Kuppel des Petersdoms mit 83, Pablo Picasso malte bis zu seinem 93. Lebensjahr. Und Alexander von Humboldt begann mit 76 sein Spätwerk „Kosmos“. Das umfasst immerhin fünf Bände.

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Anne-Dore Krohn

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