Berlin: Rudi Dutschkes Reformideen sind nach wie vor aktuell
Warum die Kreuzberger Kochstraße den Namen des Studentenführers tragen sollte Von Tilman Fichter
Es ist in Deutschland noch immer für jede Generation schwierig gewesen, die eigene Geschichte selbstkritisch zu diskutieren. Verwunderlich ist, dass der Tagesspiegel vom 25. Januar 2005 den Autor der Position: „Rudi Dutschke stand für Gewalt“, Gerd Langguth, kommentarlos als neutralen „Politikwissenschaftler“ präsentierte.
Tatsächlich war Langguth bereits in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre aktives CDUMitglied und ab Frühjahr 1970 Bundesvorsitzender des „Ringes Christlich-Demokratischer Studenten“ (RCDS) und trat auf zahlreichen Veranstaltungen als Dutschke-Kritiker auf. Er veröffentlichte seitdem mehrere Bücher und Artikel über die „Ursachen und Folgen“ der antiautoritären Revolte. Mit anderen Worten: Langguth gehört seit fast 40 Jahren zum harten Kern der konservativen Kritiker der studentischen Revolte.
Am 27. Januar 1965 trat Rudi Dutschke der SDS-Hochschulgruppe an der Freien Universität bei. Er war Ende der 1950er Jahre aus Luckenwalde nach West-Berlin emigriert. Zuvor hatte er – aus linkspatriotischen Erwägungen heraus – den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee verweigert. Er wollte im Ernstfall auf seine westdeutschen Landsleute nicht schießen.
In den Jahren 1962/63 hatte Dutschke sich an den Aktivitäten der „Subversiven Aktion“ beteiligt. Wesentlich für die Vorstellungen dieser Gruppe waren zwei Komponenten: das aktionistische Revolutionsmodell der Münchener Sektion um Dieter Kunzelmann und die „historisch-ökonomischen Analysen“ der „Berliner Schule“ um Rudi Dutschke und Bernd Rabehl.
Nachdem der Versuch, „aktionsfähige Mikrozellen“ in bundesrepublikanischen Universitäten zu gründen, gescheitert war, traten einige Mitglieder der „Subversiven Aktion“ in den SDS ein, mit der Absicht, in diesem autonomen linkssozialistischen Studentenbund „aktionistische Fraktionen“ zu etablieren. Während die Münchener Aktivisten um Kunzelmann schon bald scheiterten, integrierte sich der Zirkel um Dutschke in den Berliner Landesverband des SDS.
Rudi Dutschke wurde am Nachmittag des 11. April 1968 mit drei Schüssen aus einem Trommelrevolver lebensgefährlich verletzt. Der Täter, ein 23-jähriger Hilfsarbeiter, hieß Josef Bachmann. In einem unmittelbar darauf herausgegebenen Flugblatt bezeichnete der SDS diese Tat als „Konsequenz der systematischen Hetze, welche Springer-Konzern und Senat“ betrieben hätten. Dutschke starb am 24. Dezember 1979 an den Spätfolgen dieses Attentats.
Rudi Dutschkes aktive Zeit im SDS umfasste also nur ganze 38 Monate. Seine theoretisch-politische Position verdeutlichte er in einem Streitgespräch mit Jürgen Habermas am 9. Juni 1967 auf dem Kongress anlässlich der Beerdigung von Benno Ohnesorg in Hannover. Habermas vertrat damals die Meinung, die Studentenproteste hätten für die Demokratie eine „kompensatorische Funktion“, weil offensichtlich in der westdeutschen Nachkriegsdemokratie die „eingebauten Kontrollmechanismen“ nicht ausreichend funktionierten. Habermas trat also für einen Ausbau der demokratischen Institutionen ein.
Demgegenüber war Rudi Dutschke der Auffassung, dass in der hochindustrialisierten Welt bereits heute mehr und mehr die „objektiven Bedingungen“ für die „Umsetzung emanzipativer Theorie in die Praxis“ gegeben seien. O-Ton Dutschke mit Bezug auf Rosa Luxemburg: „Alles hängt vom bewussten Willen der Menschen ab, ihre schon immer von ihnen gemachte Geschichte endlich bewusst zu machen.“ Anders als für Habermas standen für Dutschke in den westlichen Gesellschaften nicht nur Reformen an, für die er übrigens immer eingetreten ist. Er ging vielmehr davon aus, dass z.B. in Westeuropa oder Nordamerika bereits damals die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen für den Aufbau einer anderen Gesellschaft jenseits von Poststalinismus und Spätkapitalismus existierten. Utopie war für ihn Teil der Realpolitik. Eine Verkürzung dieser Debatte über das Verhältnis von Reformen und utopischen Gesellschaftsentwürfen auf den RCDS-Kampfbegriff „Dutschkes Gewaltphilosophie“ setzt die damalige Polemik nur fort und ist letztlich unproduktiv.
Ob Dutschke heute nur noch eine „tragische Figur im Kampf gegen eine saturierte Gesellschaft“ darstellt – wie die SPD-nahe Monatszeitschrift „Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ im Januar 2001 schrieb – wage ich angesichts von offiziell fünf Millionen Arbeitslosen zu bezweifeln. Denn die Problematik der Entwicklung der Demokratie im Kapitalismus mit all seinen Widersprüchen ist nach wie vor aktuell. Die Diskussion über die eventuelle Umbenennung der „Kochstraße“ in „Rudi-Dutschke- Straße“ bietet noch einmal einen guten Anlass, die gesellschaftspolitischen Visionen der damaligen Debatte in Erinnerung zu rufen. Denn die Bilder des blutigen Privatkrieges der RAF-Desperados gegen die bundesrepublikanische Gesellschaft haben den Blick auf die damals geführte Auseinandersetzung über Reform und Utopie längst verstellt.
Tilman Fichter ist Politikwissenschaftler und arbeitete von 1987 bis 2001 als Referent für politische Bildung beim Parteivorstand der SPD. Buchveröffentlichungen zum Thema: „Kleine Geschichte des SDS“ (mit Siegward Lönnendonker), Berlin 1977, und „SDS und SPD. Parteilichkeit jenseits der Partei“, Opladen 1988.
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