Canisius-Kolleg: Spielend Grenzen setzen
13-Jährige trainierten im Jugendclub des Canisius-Kollegs, Nähe und Distanz zu erspüren. Vor 30 Jahren geschahen die sexuellen Übergriffe bei ähnlichen Übungen.
Sie sollen ein Gespür bekommen für Nähe und Distanz. Dafür, dass jede Person unsichtbare, aber fühlbare Außengrenzen hat, die man nicht überschreiten darf, weder mit Worten noch mit Händen.
Diese Woche haben die Berliner Schüler Winterferien. Und doch stehen sich an diesem Dienstagabend im Canisius-Kolleg im Jugendzentrum neun Jungen und drei Mädchen paarweise gegenüber. Immer einer hat die Augen geschlossen, der andere hat sie offen. Dann halten die Paare ihre Unterarme nach oben und nähern die Handflächen einander an. Wie nah ist der andere, wenn ich mit geschlossenen Augen nur die Wärme seiner Handfläche spüre? Kann ich mich so auf die Wärme konzentrieren, dass mich der andere durch den Raum führen kann, ohne dass sich die Hände berühren?
Die zwölf Mädchen und Jungen sind Schüler des Canisius-Kollegs. Sie opfern ihre Ferienwoche, weil sie Gruppenleiter im Jugendzentrum werden wollen. In dem fünftägigen Grundkurs sollen sie sich fragen, wer sie sind, welche Ideale sie haben und ob Gott in ihrem Leben vorkommt. Mit spielerischen Übungen sollen sie unterscheiden lernen, was sie selbst wollen und wo andere Druck auf sie ausüben. Sie erfahren, wie sie auf andere wirken, und trainieren, wie man Feedback gibt, ohne andere zu verletzen.
„Die einwöchige Grundschulung ist das Fundament, wenn man für andere Verantwortung übernehmen will. Das geht nicht, ohne sich selbst zu kennen“, sagt einer der vier Teamer des Ferienkurses, der 19-jährige Peter Schwarz. Das Programm ist anspruchsvoll, besonders für jemanden, der erst 13 oder 14 Jahre auf der Welt ist.
Das Jugendzentrum ist in allen Jesuiten-Schulen die zweite pädagogische Säule, neben dem Unterricht. Im Unterricht wird Wissen vermittelt, im Jugendclub geht es ums Miteinander. Das war schon 1563 am ersten Jesuiten-Kolleg so. Das war auch vor 30 Jahren so, als der pädophile Pater Peter R. geistlicher Leiter des Jugendclubs am Canisius-Kolleg war.
„Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass die damals ähnliche Übungen gemacht haben wie heute, während der dann die Übergriffe stattgefunden haben“, sagt der Pater, der heute geistlicher Leiter des Jugendclubs ist. 1981 hatten sich Schüler, die gerade das Kolleg verlassen hatten, in einem Brief an Eltern, an den Schulleiter, und an den Jesuitenchef über die Arbeit von Pater R. im Jugendclub beschwert. Dass er alles im Alleingang bestimmen würde, es keine freien Wahlen gebe, dass er versuche, die „Sexualität einzelner gezielt zu steuern“ und homosexuelle Schüler ausgrenze, steht in dem Brief. Aufmerksame Leser hätten damals schon hellhörig werden können. Aber der Brief blieb folgenlos.
„Das ist mir schon sehr nahe gegangen, dass die Übergriffe ausgerechnet im Jugendclub stattgefunden haben“, sagt Zeno Kakuschke, 18 Jahre alt und seit vier Jahren Gruppenleiter. „Aber heute herrscht hier eine ganz andere Atmosphäre.“ Auch das vor allem sei ihm jetzt bewusst geworden. 560 der rund 850 Schüler des Kollegs kommen nachmittags hierher, ohne Druck, ohne Noten. Die Älteren, um sich nach dem Unterricht ein Süppchen zu kochen und zu quatschen, die Jüngeren, um an Gruppenstunden teilzunehmen. Da wird Fußball und Theater gespielt, gebastelt, debattiert, über Politik, was im Leben gerade alles so anliegt. Die Schüler entscheiden und gestalten das Programm.
Die 13-Jährigen haben sich an diesem Dienstagabend jetzt wieder zu Paaren zusammengefunden. Einer sitzt auf dem Boden und gibt dem anderen Hinweise, wie er sich mit geschlossenen Augen durch den Raum bewegen soll. „Drei Schritte nach rechts, umdrehen.“ Der Partner soll sich einlassen auf die Stimme des anderen. „Es hat mir gefallen, mich einem anderen anzuvertrauen“, sagt ein Junge in der Auswertungsrunde hinterher. Ein Mädchen meint: „Eine neue Erfahrung, dem anderen alles zu überlassen.“ Ein Junge hatte allerdings „die ganze Zeit das Gefühl, gleich gegen die Wand zu laufen“.
„Du hast ein Gespür dafür entwickelt, wie du auf andere reagierst und wie der andere auf dich reagiert“, sagt Betreuer Peter Schwarz abschließend in die Runde. „Das ist die Grundvoraussetzung dafür, wenn du ein Amt übernimmst.“ Die Jungen und Mädchen sitzen mit den Teamern auf dem Fußboden, die meisten in Jeans und T-Shirt. Einer hat ein Sweatshirt an, auf dem „I love CK“ steht. Anstelle des „love“ ist das Emblem der Schule zu sehen.
Später am Abend geht es um „Feedback-Kultur“. Dass man sich beim Kritisieren auf Aktuelles konzentrieren und keine Wertung über die Person an sich abgeben soll, steht zum Beispiel auf den Blättern, die die Betreuer austeilen. „Verantwortung zu übernehmen hat immer mit Kommunikation zu tun. Wichtig ist, dass du das in einer Art und Weise kommunizierst, dass du die Grenzen des anderen nicht verletzt“, sagt Peter Schwarz einleitend. Dann diskutieren alle eineinhalb Stunden über die Regeln und wann und wie sie anzuwenden sind.
„Wenn mir Leon ins Gesicht schlägt, muss ich mich dann auch daran halten?“, fragt ein Junge. Da mischt sich der fürs Jugendzentrum zuständige Pater ein. „Um Gotteswillen nein. Das ist eine klare Grenzüberschreitung. Die solltest du sofort entschieden zurückweisen.“ Am nächsten Tag sollen sich die Schüler gegenseitig Feedback dazu geben, wie sie sich in den fünf Tagen wahrgenommen haben. Die Übungen und Gespräche gehen ans Eingemachte. Die Fragen, die sich die Schüler stellen und die Erfahrungen, die sie machen, können ihnen ein Leben lang helfen, mit anderen im Team zu arbeiten, selbstbewusst Wünsche zu formulieren und Übergriffe abzulehnen.
Dass so etwas mit den Schülern hier trainiert wird, ist die große Stärke des Canisius-Kollegs. Aber ist es nicht auch seine Schwäche? Was ist, wenn die 19-jährigen Teamer pädophile Neigungen hätten? Was, wenn der geistliche Leiter des Zentrums pädophil wäre? Könnten sie das Vertrauen der Jungen und Mädchen heute nicht ebenso manipulieren wie vor 30 Jahren?
Peter Schwarz und Zeno Kakuschke nicken. Diese Fragen haben sie sich auch gestellt. „Die Strukturen sind heute viel demokratischer“, sagen sie aber. Die Schüler wählen ihre Gruppenleiter selbst und alle zwei Jahre einen geistlichen Leiter, der jederzeit abberufen werden kann. Gruppenleiter werden mehrmals im Jahr geschult, um hellhörig zu bleiben, der Pater unterzieht sich einer Supervision von außen, bei kleinstem Verdacht wird die Ombudsstelle des Ordens benachrichtigt. „Aber der wesentliche Unterschied ist: Gerade in dieser Grundschulung ermutigen wir die Kleinen immer wieder, sich zu wehren, wenn Grenzen verletzt werden, sich zu äußern, wenn ihnen etwas nicht gefällt“, sagt Schwarz. „Es hat sich viel verändert“, sagt er. Und fügt an: „Aber die Gefahr, dass Vertrauen missbraucht wird, die gibt es immer in asymmetrischen Machtverhältnissen.“ Claudia Keller