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Berlin: Stadt der Verweigerer

Vor 50 Jahren trat das Wehrpflichtgesetz in Kraft 50 000 Männer entkamen dem Dienst durch Umzug

Paragraf 1, Absatz 1: „Wehrpflichtig sind alle Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an, die Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind.“ Das Wehrpflichtgesetz, das heute vor 50 Jahren in Kraft trat, beeinflusste das Leben tausender junger Männer. Für den Wehrdienst gab es nur die Alternative Zivildienst – oder den Umzug nach Berlin, wo die Wehrpflicht bis zur Wende nicht griff. „Anpassung und Gehorsam, das hätte meine persönlich Freiheit sehr eingeschränkt“, erinnert sich der heute 50-jährige Ulf Mailänder. Als der Abiturient 1975 seinen Antrag auf Wehrdienstverweigerung abschickt, lebt er in Detmold, Ostwestfalen. Es sind wenige Dinge, die den jungen Mann dort halten. Zum Beispiel das Kreiswehrersatzamt: „Das Amt antwortete mir sinngemäß, ich hätte nur einen ganz normalen Ekel vor dem Dienst“, amüsiert sich Mailänder. Zur Befreiung reichte dies jedoch nicht.

Die Hartnäckigkeit der Behörde erfährt auch Gerald Endres. Der Augsburger beginnt 1974 sein Studium in Berlin. Da hat er bereits Bekanntschaft mit dem Kreiswehrersatzamt gemacht, das ihn immer wieder vorsprechen lässt. Mit Fangfragen: „Wenn Sie mit ihrer Freundin nachts durch den Park gehen, und ein Fremder droht, sie zu vergewaltigen – würden Sie von einer Schusswaffe Gebrauch machen?“ Endres ist vorbereitet: „Man musste antworten, dass man die Waffe zwar benutzen würde, hinterher aber große Gewissensbisse kriegen müsste.“

Heinz Jansen, der 1983 nach West-Berlin kommt, ist nicht so gut vorbereitet wie Endres: „Ich bin ziemlich naiv an die Sache herangegangen.“ Bevor sich der Nordhorner der Armee durch ein Studium in Berlin entziehen kann, hat er fünf Jahre mit dem Ersatzamt zu tun. Er verweigert zweimal. Es kommt zur Gerichtsverhandlung: Antrag abgelehnt. Jansen geht nach West-Berlin.

Auch Ulf Mailänder zieht hierher, studiert Germanistik an der FU. Doch das Amt gibt nicht auf. „Die dachten, sie könnten meinen Vater als Verbündeten gewinnen.“ Doch der gehört dem „weißen Jahrgang“ an – zu jung für die Armee des Dritten Reiches, zu alt für den neuen Wehrdienst. Er lässt das Amt abblitzen. „Das hat die sehr geärgert“, sagt Ulf Mailänder. Nicht einmal Amtshilfe können die Detmolder Beamten anfordern. Das entmilitarisierte und von den Alliierten kontrollierte West-Berlin hat kein Ersatzamt. Aber die Behörden der Bundesrepublik ließen sich ungern austricksen.

Das kriegt Gerald Endres zu spüren, den das Kreiswehrersatzamt nicht einfach ziehen lassen will. Seine Mutter erhält Anrufe, wann ihr Sohn denn wieder in Augsburg sei. Das Amt findet seine Adresse heraus und schickt Briefe nach Berlin – aus Angst vor der Alliierten-Regierung in neutralen Umschlägen ohne Absender. Endres schmeißt alles weg, reagiert nicht. Ein mutiger Kämpfer gegen die Wehrpflicht? „Mein Mut bestand darin, nach Berlin umzuziehen und zwei Briefe in den Papierkorb zu werfen.“

Mut musste jedoch Hermann Köhler aufbringen. 1977 kommt er vom badischen Freudenberg nach West-Berlin, wird hier zum Erzieher ausgebildet, macht sein Abitur nach, studiert an der Fachhochschule. Sobald eine Ausbildung abgeschlossen ist, wird die Heimfahrt zum Risiko: „Die hätten mich dann an der Grenze gleich einziehen können.“ Köhlers Eltern akzeptieren seine Verweigerung „à la Berlin“. Doch in der Heimat sind nicht alle damit einverstanden: „Bei einem Besuch in Süddeutschland diskutierten wir auf einer Party leidenschaftlich über Krieg und Pazifismus. Danach kam einer an und sagte mir: ,Ihre Akte liegt bei meinem Bruder im Amt auf dem Tisch – der wird sich jetzt besonders darum kümmern’.“

Hans Strömsdörfer

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