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Glosse: Der letzte Radfahrer von Berlin

Wir werden weniger, aber ich gebe nicht auf. Es ist was Persönliches, zwischen mir und dem Berliner Winter: Ich will der letzte Radfahrer in dieser Stadt sein.

Von Anna Sauerbrey

Strike. Heute Morgen um neun Uhr 17 waren es nur noch zwei. Streng genommen vier. Aber zwei zählen nicht. Schneeberge auf Sätteln und Pedalen zeugen davon, dass diese Fahrräder schon vor Tagen zurückgelassen wurden. Damit ist ein Etappenziel erreicht. Ich gehöre zu den letzten Radfahrern beim Tagesspiegel. Den Rest schaffe ich auch noch: Ich werde der letzte Radfahrer von Berlin.

Das ist was Persönliches, zwischen mir und Berlin. Seit ich im schönsten Frühling hergezogen bin, werde ich gewarnt. Lass dich nicht täuschen, flüsterten mir Eingesessene mit verschwörerischer Miene zu. Im Winter sei das eine andere Stadt. Je dunkler und kälter es werde, desto gemeiner würden die Berliner und umso schlimmer die Depressionen. Ganz zu schweigen vom Schneematsch. Und den Erfrierungen. So schlimm wird es schon nicht werden, sagte ich optimistisch, woraufhin die Eingesessenen oft so ein bitteres kleines Lachen ausstießen, das ins Mark ging. Nicht mit mir. Ich werde der letzte Radfahrer.

Die Chancen, mein Ziel zu erreichen, stehen gut. Es wird noch tagelang nicht tauen, für das Wochenende ist Neuschnee angesagt. Das wird weitere Konkurrenten zum Aufgeben bringen. Der tapfere Kollege aus der Online-Redaktion hat heute Morgen gebeichtet, schon vor drei Tagen ausgestiegen zu sein. Unterwegs sieht man fast nur noch Fahrradkuriere. Ich kann es schaffen. Ich bin gut gerüstet.

Nachdem ich mir schon im Dezember im Supermarkt einen großen Becher heißes Wasser schnorren musste, weil während des Einkaufs draußen mein Fahrradschloss eingefroren war, gehe ich nicht mehr ohne Enteiserspray aus dem Haus. Auch der Helm, den ich schon im Sommer gekauft, aber aus Eitelkeit nie getragen habe, kommt jetzt zum Einsatz. Handschuhe, Schal und dicke Socken verstehen sich von selbst. Ich würde sogar so weit gehen, im Notfall Wollstrumpfhosen zu tragen. So kalt war es aber noch nicht.

Sicher, es wird beschwerlicher. Heute Morgen, nach dem Weihnachtsurlaub, musste ich mein Rad im Hof freischaufeln. Handbremse und Gangschaltung funktionieren nicht mehr. Unterwegs kam ich in einen Graupelschauer, der mir ausgerechnet am Halleschen Tor, wo immer viele Hindernisse unterwegs sind, kurz völlig die Sicht nahm. Auch der soziale Druck wird größer. Mein Mann umarmt mich jeden Morgen zum Abschied als sei es das letzte Mal und prüft, ob der Helm auch gut sitzt. Die Menschen, die an den Bushaltestellen warten, betrachten mich mit demselben Gesichtsausdruck wie jemanden, der seinen Kopf in das geöffnete Maul eines hungrigen Krokodils steckt. Ich werde dem trotzen. Der Berliner Winter ist eben kein Ponyhof.

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