Stadtleben: Faible für junges Gemüse
Seit 40 Jahren haben Bärbel und Hans-Jörg Lorenzen ihren Stand in der Kreuzberger Marheinekehalle
„Wissen Sie, wo ich die hier kriege?“ Ein grauhaariger Mann hält Bärbel Lorenzen ein leeres Soßengläschen hin. Sie überlegt. „Ach, die hatte doch der Pole“, sagt die blonde Obstverkäuferin mit der kräftig-rauen Stimme: „Nee, den jibts nich mehr. Der is zurückjegangen.“ Kunde: „Ich dachte mir schon, dass Sie alles wissen.“ Bärbel Lorenzen und ihr Mann Hans-Jörg gehören zum Inventar der Kreuzberger Marheinekehalle, wie sie selbst sagen. Seit 40 Jahren betreiben sie ihren Obst- und Gemüsestand. Länger als alle anderen hier.
Im Januar 1968 fing Bärbel Lorenzen an, in der Markthalle zu verkaufen. Sieben Obsthändler gab es damals. Heute sind es noch zwei. Der Stand gehörte ihrem Schwager. Weil der aber keine Frau hatte, bat er sie um Unterstützung. Bärbel Lorenzen war damals 23, der Sohn zwei Jahre, die Tochter gerade acht Wochen auf der Welt. Ihr Mann Hans-Jörg war Maler, arbeitete auf dem Bau.
Der Schwager zog sich nach und nach aus dem Geschäft zurück. Ein Nachfolger sollte her. „Er hat uns den Stand eigentlich aufgeschwatzt“, sagt Bärbel Lorenzen, lächelt und macht dabei ihre grünen Augen ganz weit. Sie und ihr Mann haben den Stand zunächst für ein Jahr gepachtet, 1970 dann endgültig übernommen. 25 000 D-Mark war er ihnen wert.
Dunkelrot blitzen Bärbel Lorenzens Fingernägel, wenn sie die Bilder von früher zeigt. Die Zeitungsberichte und Fotos aus 40 Jahren Marheinekehalle hat sie zu Hause gesammelt. Alle zeigen sie selbst, das Gesicht von Obst und Gemüse Lorenzen. Mit ihrem unverkennbaren Lächeln und dem hochgesteckten blonden Dutt. Neuerdings trägt sie eine rote Strähne über der Stirn.
Um kurz vor vier Uhr morgens beginnt der Tag der Lorenzens. Er fährt zum Großmarkt, sie bringt das Haus in Ordnung. Ab Mittag steht Bärbel Lorenzen in der Markthalle. Für tagsüber nimmt sie sich Stullen mit, „Mittagessen“ gibt es gegen 22 Uhr. „Ich könnte umfallen, wenn ich nach Hause komme“, sagt Bärbel Lorenzen. Ins Bett geht dann aber höchstens ihr Mann. Sie schaut fern, liest eine Illustrierte, macht sich die Nägel.
Supermärkte ersetzen mittlerweile viele der Marktstände in der Marheinekehalle. Deren Angebot ist günstiger, meist auch größer. Aber auch die kleinen Händler haben ihr Sortiment im Laufe der Jahre umgestellt. Früher habe es im Winter gerade mal Endivien und Kopfsalat gegeben, sagt Bärbel Lorenzen. Heute verkaufe sie zehn Sorten Salat, das ganze Jahr über. Seit zwei Jahren führen sie und ihr Mann auch Obst und Gemüse aus Bioanbau. „Det muss man heute machen“, sagt sie.
Vielleicht zwei Jahre will Bärbel Lorenzen noch weitermachen am Stand. Sie ist jetzt 63, ihr Mann ein Jahr älter. Eine harte Arbeit sei das, was sie machen, sagt sie, „mehr als nur ein paar Äpfel verkaufen.“ Die Lorenzens hätten gern „einen würdigen Nachfolger, vielleicht aus unserem Gang“. Die Kinder wollen den Marktstand nicht übernehmen. Der Sohn ist selbstständig, die Tochter arbeitet im Neuköllner Jobcenter. Bärbel Lorenzen versteht die Entscheidung: „Klar, dass die ihren Beruf nicht aufgeben wollen.“
Rund zwei Drittel der Kunden kommen regelmäßig zu Lorenzens Obst- und Gemüsestand in der Mitte der Marheinekehalle, neben der Treppe. Auch Händler, die ihren Stand mittlerweile aufgegeben haben, besuchen sie oft. Enge Freundschaften seien früher entstanden, sie haben gemeinsam Urlaub gemacht. „Superfeten“ haben sie gefeiert, im Mittelgang der Marheinekehalle.
Durch diesen Gang kommt der Mann mit dem Soßengläschen zurück, hält bei Lorenzens an: „Hier, am Käsestand hab ich sie gekriegt.“ „Ach, det wusst ick jar nich, dass die die haben.“ Bärbel Lorenzen lächelt dem Kunden hinterher. „Na, det is doch schön. Wieder einen glücklich jemacht.“ Christina Kohl
Christina Kohl