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Berlin: Trauma-Job Busfahrer

Die Attacke kam aus dem Nichts, alles ging ganz schnell. Carsten Lau ist seit zehn Jahren für die BVG auf den Straßen der Stadt unterwegs. Seit jenem Morgen in Neukölln sieht er vieles mit anderen Augen

Ihm hat niemand mit dem Notausstiegshammer den Schädel eingeschlagen. Er hat keine Steine, Flaschen oder Metallhaken zum Ausfahren der Rollstuhlrampe abgekriegt. Kein Rudel alkoholisierter Adoleszenten ist mit Schlägen und Tritten über ihn hergefallen. Carsten Lau hat sich „nur“ ein paar Fausthiebe auf die Nase eingefangen. Eines Junimorgens 2004 um halb neun. „Körperlich hab ich Glück im Unglück gehabt“, sagt er ein Dreivierteljahr später, „aber die seelische Wunde, die hat mich doch ziemlich aus der Bahn geworfen.“

Carsten Lau fährt seit knapp zehn Jahren BVGBusse auf verschiedenen Linien, nicht nur in „Problembezirken“. Er ist 35 und in Gestalt und Auftreten das glatte Gegenstück zum sprichwörtlichen Berliner Busfahrer. Kein Plautzen-Preuße, bei dem allein die Körpersprache zum Aggressionsauslöser werden kann, ganz zu schweigen von gebellten Kalauern und einer in Griesgram erstarrten Miene. Carsten Lau ist ein freundlicher, ganz unaggressiver Mensch. Sein Humor ist eher Schwejk als Berliner Schnauze, obwohl er geborener Berliner ist. Er ist auch keineswegs „so hundertprozentig dienstbeflissen, mir jede Fahrkarte genauestens anzugucken. Geht gar nicht. Sollen wir ja auch gar nicht, nach den Dienstvorschriften“. Trotzdem wird er Opfer einer Gewaltattacke, die aus dem Nichts kommt und in Minutenschnelle vorbei ist. „Ich bin auf der Sonnenallee gefahren, und da kam ein Fahrgast rein und hat mir einen Fahrschein direkt unter die Nase gehalten.“ Lau erkennt nichts außer dem Wort „Kurzstrecke“. Damit kann man nicht umsteigen. Er sagt dem Mann, dass der Fahrschein ungültig ist. „Nicht: Aussteigen! oder: Nachzahlen!, nur einfach die Feststellung. Ist doch oft so, dass Fahrgäste in der Hektik einen alten Fahrschein vorzeigen.“ Der Mann schreit ihn sofort an: „Wichser! Und türkische oder arabische Wörter, die ich nicht verstanden habe.“ Deren Inhalt aber unmissverständlich ist, zumal der Mann ihn durch Körpereinsatz bekräftigt. „Ich fand, ich muss mich nicht unbedingt beleidigen lassen, und hab erst mal den Motor ausgemacht. Daraufhin hat er ohne jede Vorwarnung zugehauen. Mehrmals, auf die Nase, aufs Gesicht. Richtig voll ausgeholt.“

Carsten Lau ist einer der 138 Busfahrer und -fahrerinnen, die 2004 bei tätlichen Angriffen so schwer verletzt wurden, dass sie längere Zeit krankgeschrieben werden mussten oder überhaupt nicht mehr Bus fahren können. Die anfangs genannten Attacken gehören auch dazu. Gebrochene Kiefer und Gliedmaßen, geplatzte Lippen und andere Hautpartien, Hämatome, ausgeschlagene Zähne. Die Liste der Folgen ist lang und wird brutaler. Das berichten die Fahrer selbst, das bestätigt die BVG. Im November 2004 gibt es den ersten bewaffneten Raubüberfall ihrer Geschichte. Zwei Männer mit „Hasskappen“ halten einem Busfahrer eine Pistole an den Kopf und ein Messer vor den Bauch. Die Beute: knapp 15 Euro Wechselgeld. Beschimpft, beleidigt und bespuckt zu werden gehört für Busfahrer zum Alltag. Die Fahrerinnen kriegen sexistische Pöbeleien ab, und es ist schon vorgekommen, dass eine Fahrerin den Kopf vom Kassentischchen wieder zum Fahrgast hebt, auf einen Penis starrt und dem Urinstrahl nicht mehr ausweichen kann.

138 langfristig lädierte BVG-Busfahrer im Jahr 2004, das sind doppelt so viele wie im Vorjahr und fast dreimal so viele wie durch Unfälle zu Schaden gekommene Fahrgäste. Deren Zahl betrug 50, bei 350 Millionen. Wie oft die 3000 Fahrer der 1400 Berliner Linienbusse angegriffen werden, ohne in irgendeiner Statistik aufzutauchen, weiß niemand. Wie sehr der Traum-Job Busfahren zum Trauma-Job geworden ist, möchten die Fahrer nicht so genau wissen. In Zeiten angezogener Daumenschrauben und steigender Bedrohung, „in den Hartz geschickt“ zu werden, wird Verdrängen zum Selbstschutz. Aber Gewaltattacken sind nicht das größte Problem. Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist ein Stress-Arbeitsplatz im doppelten Sinn. Die Busse müssen in immer knapperen Zeittakten durch immer dickeren Verkehr manövriert werden, und ein großer Gelber ist ein verdammt schwieriges Fahrzeug. Die Fahrer müssen nicht nur die Kundschaft sicher befördern, sondern auch Fahrscheine prüfen und verkaufen. Obendrein könnte jeden Moment etwas Schlimmes passieren. All dem sind die Fahrer ausgesetzt. Gleichzeitig sollen sie aber auch begnadete Sozial-Regisseure sein. Die Kundschaft steht im Mittelpunkt, deren Zufriedenheit garantiert letzten Endes den Arbeitsplatz. Zwar macht der einzelne Fahrer weder die engen Fahrpläne noch die unentwirrbaren, teuren Fahrpreise, er hat auch nicht den früher „fürs Soziale“ zuständigen Schaffner abgeschafft, aber: „Nur mal ein Beispiel: Fahrgast wartet 20 Minuten im Regen – natürlich ist der sauer! Das ist doch normal. Und der Busfahrer ist der Erste, der für ihn greifbar ist“, sagt Fred Juhnke, Ausbildungsleiter des Seminars „Krisen und Konflikte“ der BVG. Auch der Kunde bringt heute immer handfestere Frust-Gründe mit. Er lebt im selben Dampfdrucktopf wie der Fahrer, auch er kriegt Anstand und Menschenwürde von Politik und Zeitgeist abgewöhnt, auch er braucht Ventile. Deshalb trainieren sie, „den Blick für das Gegenüber zu öffnen“, Gemecker nicht persönlich zu nehmen. Mögliche Frust-Lunten nicht an beiden Seiten anzünden, sondern früh entschärfen. Sich in die Schuhe des anderen stellen, heißt aber auch, sein eigenes Verhalten aus der Distanz ansehen. Sich selbst hören, die eigene Körpersprache beobachten, das lernen die Fahrer in Rollenspielen, die per Video aufgezeichnet und sofort gemeinsam ausgewertet werden.

Knapp 400 haben dieses Seminar absolviert, bis 2007 sollen alle krisen- und konfliktfest gemacht werden, zusätzlich zum alljährlichen eintägigen Fahrsicherheitstraining. „Das Konzept haben wir schon vor einigen Jahren mit der Uni Bremen entwickelt“, sagt Eberhard Victor, der stellvertretende Leiter „Ausbildungszentrum/Fahrschule“. Das ist ein BVG-eigenes Profit-Center, das sich mit Weiterbildungsangeboten auch für andere Firmen selbst vermarkten muss und bald zur Verkehrsakademie ausgebaut sein soll. „Wir gehen aus von den Praktikern vor Ort – also, wenn wir da 10 Fahrer haben, die seit 20 Jahren Bus fahren, sind das für uns satte 200 Jahre Erfahrungsschatz. Aus dem schöpfen wir.“ Victor staunt immer wieder, „dass Fahrern oft selbst gar nicht bewusst ist, was sie draufhaben. Die sagen: Komisch, mir passieren solche Situationen nie, und merken gar nicht, in welchen Facetten ihres Verhaltens soziale Kompetenz steckt.“ Victor ist selbst sechs Jahre lang Bus gefahren. Bei ihm kann man sich kaum vorstellen, dass die Übellaunigkeit eines Fahrgasts zur allgemeinen Luftverpestung eskaliert. Der müsste schon allergisch sein für sonore, besänftigende Stimmen à la Victor. Oder einfach Krieg wollen.

Das Profit-Center bietet nicht nur Trainings in Deeskalation und Fahrsicherheit, bei denen Fahrer auch mal am eigenen Leib „die physikalischen Kräfte als Fahrgast“ spüren dürfen, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen, aus Busbenutzern Flipperkugeln zu machen. Es gibt auch Spezial-Englischkurse und „Nachschulung für Mitarbeiter, bei denen Verkehrsunfälle oder Kundenbeschwerden ein auffälliges Maß erreicht haben“.

Und wenn sich eine Situation trotz allem zuspitzt? Ein Zehntel der Busse hat Kameras. Aber die nützen in dem Moment nichts. Wenn’s knallt, nützt nur: nicht genieren, Hilfe holen! Alarm auslösen und den ganzen Bus zum Blinken und Hupen bringen. Aber damit eventuell Fahrgäste in Panik und Angreifer erst richtig in Rage versetzen.“ Oder stillen Alarm, den nur unsere Leitstelle mitbekommt“, sagt Carsten Lau. „Die haben ein rechnergesteuertes System, die sehen da auch den Standort.“ Die Leitstelle hört mit, was sich im Bus abspielt und hat den kurzen Draht zur Funkbetriebszentrale der Polizei. „Die waren in zwei Minuten da – meine Hochachtung!“, erinnert er sich. Die Polizei kommt aber nicht nur, wenn etwas passiert ist. Der ÖPNV gehört zu den Einsatzgebieten zur Kriminalitätsbekämpfung, in denen die Einsatzhundertschaften (EHu) der beiden Bereitschaftspolizeien regelmäßig präventiv und notfalls repressiv unterwegs sind. „Wir machen Schwerpunkteinsätze“, sagt Andreas Karkhoff, Erster Polizeihauptkommissar und Chef der 25.EHu, „das heißt, wir gehen zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmte Brennpunkte, sowohl in Uniform als auch in bürgerlicher Kleidung“. An diesem eisigen Februarabend sind 30 Beamtinnen und Beamte dabei, ein Drittel davon in Zivil, gemeinsam mit 4 BVG-Mitarbeitern, auch die teils in Zivil, teils in BVG-Kleidung. Die BVG beschäftigt neben privaten Sicherheitsfirmen auch eigene „Mitarbeiter Ordnungsdienst“ (MOD), oft ehemalige Fahrer, die vom Bock runtermussten. So wie Holger „wegen der Bandscheibe“, vor zwei Jahren. „O ja, die Hemmschwelle sinkt, haben wir das Gefühl!“, sagt er, bei minus zehn Grad an einer Endstation in Britz bibbernd und auf den nächsten Bus wartend. „Da kann jede Fahrpreiserhöhung zu Übergriffen führen. Wenn du bloß fragst: Na, wie sieht’s denn so aus mit’m Fahrschein?, kannst du schon eine gedrückt bekommen.“

Auch Haltestellen sind Angriffsziele, sagt Christian. „Da werden Wartehäuschen beschädigt, Mülleimer abgetreten, da wird getagged und gescratched.“ Der 27-jährige Polizeiobermeister ist ausgebildeter Rettungssanitäter und an diesem Abend mit einem zweiten Kollegen in Einsatzanzug und Käppi unterwegs. Durch Neukölln und Britz und zurück. Von acht bis nach Mitternacht. Keine Vorkommnisse. Trotzdem spürt man eine gewisse Erleichterung, vor allem bei einzelnen Frauen. „Doch. Das ist mir angenehm“, sagt eine, die problemlos in jede Gorleben-Demo passen würde, „vor allem, weil mir gerade in der S-Bahn so was passiert ist – da ist so ein Typ mit einem Metalldraht rumgelaufen, und ich konnte nicht berechnen, sticht der gleich damit zu oder was? Wir hatten alle ziemliche Angst.“

Grün im Bus bringt Ruhe ins Spiel. Niemand grölt, niemand rüpelt. Alle dösen vor sich hin, alle scheinen möglichst schnell nach Hause ins Warme zu wollen. In den Bussen mit Polizisten in Zivil ist der Geräuschpegel auffallend höher. „Wir achten heute Abend vor allem auf Jugendliche, einzeln und in Gruppen“, sagt Guido, der 35-jährige Polizeikommissar, der den Einsatz koordiniert. „Das lässt sich relativ kurzfristig machen. Ein, zwei Tage Planung zusammen mit der BVG, dann können wir das durchführen.“ Direkt messbar ist der Erfolg nicht. „Aber wir als Bereitschaftspolizei versuchen schon“, fasst Andreas Karkhoff zusammen, „gemeinsam mit den Streifendiensten Verbrechensbekämpfung der Abschnitte und anderen, auch spezialisierten Einheiten einen hohen Überprüfungsdruck aufzubauen. Und das bedeutet, Täter müssen damit rechnen, dass hinter ihnen ein Polizist in Zivil sitzt.“ Auch wo nicht Polizei dransteht, kann Polizei drin sein. Denn zwei Grüne in jeden Bus, jede Bahn stellen, das geht nicht. Es wäre auch das Letzte, was einer Zivilgesellschaft zu Gesicht steht.

Zivilcourage hat Carsten Lau erlebt. Ein Fahrgast half ihm gegen den Schläger von der Sonnenallee. „Der ist aufgesprungen und wollte den festhalten, und der hat zum Schluss mehr abgekriegt als ich. Der lag mit blutiger Nase draußen auf der Straße!“ Ihm ist er heute noch sehr dankbar, und er fürchtet, „das wird der wahrscheinlich nie wieder machen, nach der bitteren Erfahrung“.

Carsten Lau fährt, nach vier Monaten Pause und einer Verhaltenstherapie, „wieder ganz normal, aber ich seh vieles anders. Man guckt sich die Leute genauer an“. Angst hat er nicht, aber abends auf manchen Strecken „wenn man mit sich allein fährt und da steigen Leute ein, die – naja, ein bisschen finster aussehen, dann wird der Herzschlag doch höher“. Dann fühlt man sich auch nur noch klein und eingeklemmt da unten auf dem Fahrersitz und wünscht sich ein bisschen Plexiglas drumrum. Wenigstens Fäuste gehen da nicht durch. Aber die gläserne Kabine ist erst im Testlauf auf zwei Bussen, also muss man sich anders schützen. Zum Beispiel durch Vermeidung von Extra-Stress beim Kontrollieren. Nicht dass man demonstrativ wegschaut, auch das könnte provozieren. Man schaltet Augen und Halswirbelsäule auf Autopilot. „Immer hingucken, ab und zu nicken. Ist vielleicht auch eine Art Deeskalation.“

Denn der übrige Stress ist zermürbend genug. Es gibt fast keine Möglichkeit mehr, sich mit Kollegen auszutauschen, wie früher, als man zu zweit, zu dritt an Endstationen stehen konnte und sich immer ein paar Minuten überschnitten. Heute hat steht man da allein, hat 4,5 Minuten und auch die nicht sicher, weil man schon mit Verspätung ankommt. Dank Zeitdruck, „bei dem jeder Rollifahrer einem den ganzen Fahrplan umschmeißt“.

Auch jeder Kinderwagen, jeder einfach langsame alte Mensch. „Aber es gibt auch Fahrgäste, die sagen: Na, Sie können ja nichts dafür. Das freut einen, da geht der Dienst gleich ein bisschen besser.

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