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Berlin: Unser täglich Wort gib uns heute

Ein Plädoyer fürs Zeitungslesen Mag ja sein, dass ich belächelt werde, wenn ich sage, ich liebe meine Zeitung. Kann man eine Zeitung lieben?

Ein Plädoyer fürs Zeitungslesen

Mag ja sein, dass ich belächelt werde, wenn ich sage, ich liebe meine Zeitung. Kann man eine Zeitung lieben? In gewisser Weise schon. Ich möchte nicht ohne Zeitung leben. Die Zeitung ist durch Präzision geadelt. Kommt hinzu, dass meine Zeitung, der Tagesspiegel, heute die Hauptstadtzeitung ist, die häufig noch vor den „großen“, überregionalen Blättern zitiert wird. Die Zeitung ist beständig, ich kann sie von vorn oder von hinten lesen, ich kann zurückblättern, sie aufbewahren, auch archivieren. Gewiss, die elektronischen Medien sind schneller. Dafür aber flüchtiger. Liest nicht jeder passionierte Zeitungsleser die gestern gehörte Nachricht am nächsten Morgen gern noch einmal in aller Ausführlichkeit, im vollen Informationsumfang? Hörfunk und Fernsehen bieten eine andere Aufbereitung. Die Zeitung macht mich im Umgang mit der Informationsflut souverän. Ich bestimme, wann ich sie zur Hand nehme. Deshalb sage ich den folgenden Generationen: Lest Zeitung, übt euch im Zeitunglesen.

„Marktplatz der Informationen“ nennt sich mein Tagesspiegel nach eigener Verlautbarung. Ich meine, das trifft es genau. Am Anfang steht die Dienstleistung. Die Laudatio auf meine Zeitung, ja auf meine Zeitung, muss ich mit einem Lobgesang beginnen, mit einem Lobgesang auf Menschen, die morgens um drei Uhr aufstehen und bei Wind und Wetter, zu jeder Jahreszeit, rund um den Kalender, durch die Straßen laufen und die Zeitung ins Zeitungsrohr stecken. Was wäre eine Zeitung ohne die Zeitungsboten? Allenfalls ein Boulevardblatt, das – ohne Abonnenten - auf den Straßenverkauf angewiesen wäre. Eine Zeitung ohne sichere, ja treue Stammleserschaft. Ich verdanke meine tägliche Lektüre Menschen, die sich für mich – bildlich gesprochen – die Hacken ablaufen. Meine Lektüre beginnt schon mit dem ersten In-die-Hand-Nehmen: wie lautet heute die Schlagzeile auf Seite eins? Ich räume ein: ich bin ein Zeitungs-Freak. Sobald nach dem ersten In-die-Hand-Nehmen Gelegenheit ist, schlage ich die Zeitung ganz auf: Der Blick schweift kurz über alle Überschriften auf Seite eins. Welches Thema liefert den Aufmacher, was haben die Zeitungsmacher für wichtig befunden, dass es nach vorn gestellt wurde? Und welche hübsche Schlagzeilenformulierung ist ihnen heute wieder eingefallen? Da der Mensch für den Tag eine Meinung braucht – er sollte wenigstens eine haben oder sich eine solche bilden – , lese ich zuerst den Leitartikel auf Seite eins rechts. Ich lese meine Zeitung, den Tagesspiegel, seit es ihn gibt, also seit mehr als 66 Jahren. Mich verblüfft, ja fasziniert immer wieder, wie die wortgewaltigen Leitartikler auf dem begrenzten Platz einer Kolumne mit treffender Formulierung selbst schwammige, ausufernde Probleme haarscharf auf den Punkt bringen. Die fernen Probleme der großen Welt, die nahen unserer unmittelbaren Umgebung, unser Leben schlechthin in wenigen Sätzen zusammenfassen. Keineswegs stimme ich immer mit dem Dargebotenen überein, ja manchmal ruft es bei mir Unverständnis und Kopfschütteln hervor. Der Leitartikel regt jedoch auf jeden Fall zum Nachdenken an, und wenn er sehr gut ist, zum nochmaligen Lesen und vor allem zur Diskussion und zum Weiterempfehlen.

Meine Frau geht an ihre tägliche Zeitungslektüre anders heran. Sie dreht die Zeitung um und liest zuerst die letzte Seite, den „Weltspiegel“. Anschließend durchforstet sie alle Teile der Zeitung nach interessierenden Themen, die „große“ Politik keineswegs ausgeklammert. Es ist ein überholtes Bild, dass die Frauen vorwiegend über Klatsch und Tratsch, Mode und Kochtopf lesen wollen. Diese Bereiche gehören aber auch in eine seriöse Zeitung, sie spiegelt, wenn sie gut gemacht ist, eben alle Bereiche des Lebens. Und noch eine Vorliebe hat meine Frau: Am Sonntag schlägt sie die Doppelseite mit den Todesanzeigen auf. Sie schaut nach, ob bekannte Namen darunter sind, rechnet das Alter zwischen Geburt und Tod aus und sinniert über die Schicksale nach.

„Die Morgenzeitung ,Der Tagesspiegel‘ kann als die eigentliche Nachfolgerin der ,Allgemeinen Zeitung‘ gelten. Sie war das erste überparteiliche Blatt nach der Hitler-Tyrannei in dem seinerzeit noch ungeteilten Groß-Berlin. Seine Gründung (1945) verdankt der ,Tagesspiegel‘ dem Geschick und der Eloquenz des damaligen amerikanischen Presseoffiziers Peter de Mendelssohn. Diesem hervorragenden Journalisten gelang es, einige integre Männer zusammenzubringen, die die Gewähr boten und willens waren, eine deutsche überparteiliche Nachfolgezeitung vom Typ der ,Allgemeinen Zeitung‘ herauszubringen. Mendelssohn fand diese Männer in Walther Karsch, Erik Reger, Edwin Redslob und Heinrich von Schweinichen“ (Walther G. Oschilewski).

Horst Meyer, Berlin-Lichterfelde

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