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Ein Todesopfer pro Woche: Fast 50 Menschen starben alleine 2020 im Berliner Straßenverkehr.

© Daniel Reinhardt/dpa

Zwischenruf des Berliner Opferbeauftragten: „Verletzte und Hinterbliebene können nicht auf die Verkehrswende warten!“

Berlin unterscheidet in Opfer erster und zweiter Klasse: Wer Opfer eines Verbrechens wurde, bekommt Hilfe - und bei einem Unfall? Ein Gastkommentar.

Berlin zahlt einen Preis für die mobile Gesellschaft. Zahlen können ihn nur schwer fassen: Allein im Jahr 2019 wurden in Berlin 40 Verkehrstote gezählt. 2020 waren es bis Ende November bereits 48, darunter 18 Fußgänger und 17 Radfahrer.

Zurück bleiben Ehegatten, Lebenspartner, Kinder, Geschwister oder Großeltern sowie Freunde und Kollegen, die mit dem Geschehen leben müssen. Selbst, wenn man jedem Getöteten nur ein gutes Dutzend als sogenanntes soziales Nahumfeld zubilligen würde, betrifft es jährlich hunderte Menschen in Berlin.

Im Berliner Mobilitätsgesetz ist die Vision Zero verankert. Keine Verkehrstoten mehr. Doch Gründe dafür, dass die Zahl der Opfer zeitnah auf Null sinken sollte, sind nicht ersichtlich – Berlin kann nicht auf die Verkehrswende warten, bis den Opfern und Angehörigen endlich geholfen wird. Denn Berlin unterteilt in Opfer erster und zweiter Klasse.

Der Fahrradfahrer hatte keine Chance

Zwei Beispiele: An einem Tag im August 2020 saß die Familie eines kurz zuvor getöteten Fahrradfahrers im Besprechungszimmer ihres Anwalts. Die Hinterbliebenen rangen um Worte, sie standen noch unter dem Schock der für sie unfassbaren Nachricht. Der Fahrer eines Lkws hatte die Kontrolle über das Fahrzeug verloren und war von der Fahrbahn abgekommen. Der an einer roten Ampel wartende Fahrradfahrer hatte keine Chance, er starb noch an der Unfallstelle.

Unzählige Fragen quälten die Hinterbliebenen. Die Nachricht war ihnen von Polizisten überbracht worden, sie waren es auch, die den Gang zum Anwalt empfahlen. Eine Behörde hatte sich nicht gemeldet. Nun ging es ihnen darum, ob sie den Verstorbenen noch einmal sehen dürften, und wie es überhaupt weitergeht. Wie lange würde es dauern, bis die Haftpflichtversicherung des Lkw-Fahrers zahlt? Was, wenn sie zum Beispiel die nächsten Mieten nicht pünktlich würden zahlen können?

Roland Weber ist Fachanwalt für Strafrecht und seit 2012 der erste Opferbeauftragte des Landes Berlin.
Roland Weber ist Fachanwalt für Strafrecht und seit 2012 der erste Opferbeauftragte des Landes Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Fast zur gleichen Zeit rammte der Fahrer eines Pkws auf der A 100 in Berlin zwischen dem Dreieck Funkturm und der Ausfahrt Alboinstraße an mindestens sechs Stellen absichtlich mehrere Motorrad- und Rollerfahrer. Dadurch wurden drei Personen schwer und drei weitere leicht verletzt. Offensichtlich war es nur dem Zufall zu verdanken, dass es keine Toten gab. Der Fahrer wurde festgenommen und aufgrund seines Gesundheitszustandes in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht. Die Ermittler halten einen islamistischen Hintergrund für nicht ausgeschlossen, die Untersuchungen dauern an.

Schon am übernächsten Tag kündigte Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) an, dass die Mitarbeiter der nach dem Terroranschlag an der Gedächtniskirche eingerichteten Opfer-Anlaufstelle auf die Verletzten zugehen würden, um sie beispielsweise bei der Bewältigung von Traumata zu unterstützen. Die Stelle nahm sofort ihre Arbeit auf und ist seitdem bemüht, allen Betroffenen die entsprechende Hilfe zukommen zu lassen.

[Nur für Abonnenten: 48 Verkehrstote 2020 - Welche Unfallstellen entschärft wurden und welche nicht]

Die Familie des getöteten Radfahrers und die Verletzten des Anschlags auf der A 100 haben gemeinsam, dass der Auslöser des jeweiligen Unglücks ein Kraftfahrzeugführer war. Doch während der Fahrer den Radfahrer nicht vorsätzlich traf, kam es dem Autofahrer auf der A100 darauf an, Leid zuzufügen. Aber gibt es seitens der Betroffenen unterschiedliche Formen von menschlichem Leid? Macht es einen Unterschied für die Hinterbliebenen, aber auch für die Verletzten, ob ein Fahrzeug absichtlich Menschen verletzt hat?

Schließlich empfing sogar die Bundeskanzlerin die Betroffenen

Dass den Betroffenen der A100 so schnell geholfen wurde, ist eine Lehre aus dem Anschlag vom Breitscheidplatz. Als am 19. Dezember 2016 ein islamistischer Attentäter einen Lkw kaperte, den Fahrer erschoss und anschließend mitten durch die Buden des Weihnachtsmarkts am Breitscheidplatz fuhr, starben insgesamt zwölf Menschen, 100 weitere wurden unmittel- oder mittelbar verletzt.

In der Folgezeit beklagten viele der Betroffenen immer wieder öffentlich, dass sie kaum Hilfe erhielten. So berichteten Hinterbliebene, dass ihnen tagelang nicht einmal der Tod ihrer Liebsten bestätigt wurde. Dafür bekamen sie danach umso schneller eine Rechnung der Charité mit der vorsorglichen Androhung von Inkassomaßnahmen, wenn sie nicht sofort zahlen.

Mit Vorsatz: Im August 2019 fuhr ein Mann in Berlin auf der Stadtautobahn gezielt mehrere andere Menschen an.
Mit Vorsatz: Im August 2019 fuhr ein Mann in Berlin auf der Stadtautobahn gezielt mehrere andere Menschen an.

© Odd Andersen / AFP

Unterdessen bekamen einige von Mitarbeitern der Banken zu hören, dass ihnen ohne Erbschein die Nutzung des Kontos verweigert werden müsste. Viele Hinterbliebene wussten nicht einmal, wo und welche Anträge sie zu stellen hatten. Aus den Medien erfuhren sie, dass die Haftpflichtversicherung des Lkw für die Schäden nicht aufzukommen hatte, da der Attentäter das Fahrzeug als Waffe missbraucht hatte. Aus dem gleichen Grund sollte zunächst das Opferentschädigungsgesetz keine Anwendung finden.

Dabei handelt es sich eigentlich genau um die gesetzliche Regelung, wonach alle Opfer von vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffen Ansprüche auf Schadensersatz geltend machen können. Nachdem die Beschwerden der Betroffenen immer lauter wurden, reagierten die Politiker. Schließlich wurden die Betroffenen sogar von der Bundeskanzlerin im Kanzleramt empfangen und es kam zu Gesetzesänderungen, damit alle Geschädigten des Attentats vom Breitscheidplatz nach Möglichkeit die Unterstützung erhielten, die sie erwarten durften. Über den Härtefallfonds des Bundes, der vom Bundesamt für Justiz verwaltet wird, stehen mittlerweile beträchtliche finanzielle Soforthilfen zur Verfügung.

Der Familie des getöteten Radfahrers wird all das verwehrt. Schlimmer noch: nicht nur die staatliche Hilfe greift nicht, auch die meisten Opferschutzorganisationen sind nicht zuständig.

[Nur für Abonnenten: "400.000 Euro für ein verpfuschtes Leben." - Beate Flanz wurde von einem LKW überrollt und überlebte]

Bereits die Eingabe gängiger Suchbegriffe im Internet zeigt jedem Interessierten, dass Berlin über dutzende von Einrichtungen für Opfer und Hinterbliebene von vorsätzlichen Straftaten verfügt. Das ist auch sehr gut so, da die Opfer von Gewalt komplexe Einschnitte in ihrem Leben erfahren haben, wodurch sich ihr Leben oftmals so verändert hat, dass nichts mehr ist, wie es war. Demgegenüber lässt sich für die Verkehrsunfallopfer wenig bis nichts finden, trotz der vergleichbaren Folgen. Die Suchbegriffe führen lediglich meist wieder zu den schon benannten Einrichtungen. Dort wiederum findet sich aber, dass nur den Opfern von Vorsatztaten geholfen werden kann, also nur denen, wo ein Fahrzeug als Waffe eingesetzt wurde.

Unfall oder Vorsatz? Für die Opfer macht es keinen Unterschied

Auf der Webseite einer der bundesweit bekanntesten Opferhilfseinrichtungen findet sich der Einleitungssatz „Wir helfen Ihnen, wenn Sie Opfer von Kriminalität und Gewalt geworden sind.“ Eine Nachfrage bei der Einrichtung ergab, dass Verkehrsunfallopfer dort auch – allerdings vergeblich – nach Hilfe suchen, weil sie nichts anderes gefunden hatten. Über das ganze Bundesgebiet verteilt finden sich nur einige wenige, meist kleinere Vereine und Einrichtungen, die sich um die Belange der Betroffenen bei Verkehrsunfällen kümmern. Ein flächendeckendes Angebot gibt es nicht. Schon gar nicht kommt jemand auf die Geschädigten zu.

Warum nicht? Für ein nichtsahnendes Opfer macht es, leicht nachvollziehbar, keinen messbaren Unterschied, ob ihm ein Straßenräuber unvermittelt wuchtig eine Flasche auf den Kopf schlägt oder ob es mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlägt, nur weil ein Fahrzeugführer beim Abbiegen nicht achtsam war. Gleiches gilt für die Hinterbliebenen.

Ob der tonnenschwere Lkw bewusst oder fahrlässig über den für immer verlorenen Menschen gesteuert wurde, macht nicht nur für den tödlich Getroffenen keinen Unterschied. Nachfragen bei Ärzten und Therapeuten zeigen, dass sich bei den Krankheitsbildern keine Unterschiede zwischen Gewalt- und Verkehrsopfern feststellen lassen. Dies ist bei den physischen Folgen für die Betroffenen auch meist leicht zu erkennen. Aber auch bei den psychischen Krankheitsbildern zeigen sich Gemeinsamkeiten: Nicht wenige Verletzte genau wie Hinterbliebene beider Opfergruppen klagen über Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwächen oder Angstzustände. Diese Symptome traten erstmalig hier wie dort nach dem Geschehen auf und ermöglichen kaum eine normale Teilnahme am Leben.

Tatwaffe Lkw: Beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 tötete ein Islamist zwölf Menschen.
Tatwaffe Lkw: Beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 tötete ein Islamist zwölf Menschen.

© imago/Seeliger

Es gibt daher schlicht keine sachlichen Argumente, warum der Verlust eines geliebten Menschen oder eine dauerhafte schwere Gesundheitsbeeinträchtigung auf der einen Seite leichter zu ertragen sein soll als auf der anderen.

Nun wäre es völlig falsch, die über Jahre hart erkämpften Unterstützungs- und Leistungsansprüche für die Opfer von Gewalttaten herabzusetzen. Aber sind all die anderen Betroffenen mit den ebenfalls schrecklichen Folgen deshalb als Kollateralschaden einer mobilen Gesellschaft zu betrachten?

Zu Zeiten, als die Politik noch vornehmlich über den weiteren Umbau von Berlin zu einer automobilfreundlichen Stadt diskutierte, hätte die Frage wohl mit einem klaren Ja beantwortet werden müssen. Indes ist seit Jahren zu beobachten, dass immer weniger Berliner und Berlinerinnen und auch die Politik willens sind, dem Autoverkehr alles unterzuordnen. So wird im vom Abgeordnetenhaus im Juni 2018 beschlossenen Berliner Mobilitätsgesetz die Verkehrssicherheit besonders betont. Ziel des Gesetzes ist, dass sich im Berliner Stadtgebiet keine Verkehrsunfälle mit schweren Personenschäden ereignen. Diese „Vision Zero“ ist Leitlinie für alle Planungen, Standards und Maßnahmen mit Einfluss auf die Entwicklung der Verkehrssicherheit.

[Wie kann der Verkehr besser werden? Der große Berliner Straßen-Check.]

Zwei Jahre später erklärte die Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Regine Günther (Grüne), im Gespräch mit dem Tagesspiegel, dass es sich um das modernste verkehrspolitische Gesetz in Deutschland handeln würde. Allerdings würde der vollständige Umbau einer Stadt, die 70 Jahre lang auf die Privilegierung des Autos ausgerichtet war, seine Zeit benötigen. Auch wenn die Kritik an der Geschwindigkeit der Umsetzung so mancher Verkehrsprojekte bestimmt nicht von der Hand zu weisen ist, lässt sich andererseits nicht leugnen, dass der verkehrspolitische und tatsächliche Umbau einer Metropole wie Berlin nicht in wenigen Jahren zu bewältigen ist.

Die Veränderung der Prioritäten lässt sich zudem auch an anderer Stelle beobachten. Als im September des vergangenen Jahres ein SUV-Fahrer in der Berliner Invalidenstraße mit hoher Geschwindigkeit ungebremst vier Menschen überfuhr und tötete, darunter ein dreijähriges Kind, kam es zu einer breiten Diskussion, ob überdimensionierte Pkws in der Stadt nicht verboten werden sollten.

Die Gesetzesveränderungen und die Diskussionen über ein SUV-Verbot sind zwei von zahlreichen Indikatoren, wonach das Auto allmählich seine bisherige Stellung in unserer Gesellschaft verliert. Den Opfern aber muss jetzt geholfen werden, gleichberechtigt. Eine solche Gesetzesänderung käme spät, für viele zu spät. Aber es ist besser spät mit der Hilfe zu beginnen als nie.

Roland Weber

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