Berlin: Vietnamesische Zigarettenmafia: Fünf Jahre saß Xuan D. schon in U-Haft - nun soll er abgeschoben werden
Obwohl der bislang größte Prozess gegen die vietnamesische Zigarettenmafia in der Sommerpause ist, spitzen sich die Ereignisse zu. Gegen die Vorsitzende Richterin ist jetzt ein Ablehnungsgesuch eingegangen, ein Verteidiger kündigte Strafanzeige gegen den zuständigen Staatsanwalt an.
Obwohl der bislang größte Prozess gegen die vietnamesische Zigarettenmafia in der Sommerpause ist, spitzen sich die Ereignisse zu. Gegen die Vorsitzende Richterin ist jetzt ein Ablehnungsgesuch eingegangen, ein Verteidiger kündigte Strafanzeige gegen den zuständigen Staatsanwalt an. Hintergrund ist die von der Justiz genehmigte und für Dienstag geplante Abschiebung eines der ursprünglich 16 Angeklagten - obwohl sich nach dreieinhalbjähriger Verhandlung gerade ein Ende in dem Mammutprozess abzeichnet. "Aus meiner Sicht ist das eine Verhinderung des ihm zustehenden Freispruchs", ist Anwalt Hennig Spangenberg empört. Eines Urteils, das auch mit einer Haftentschädigung verbunden sein könnte.
Die Bande Ngoc-Thien war berüchtigt
Vier Jahre und zehn Monate saß der 37-jährige Xuan D. in Untersuchungshaft. Die Anklage wirft ihm zweifachen Mord und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor. Er soll zur berüchtigten "Ngoc-Thien-Bande" gehört haben, die zeitweilig zwei Drittel des illegalen Zigarettenmarktes in Berlin kontrollierte. Mit brutaler Strenge. Die Anklage macht den mutmaßlichen Anführer der Bande, der sich "Ngoc Thien", "der Barmherzige" nannte, für neun Morde an Rivalen oder Abtrünnigen verantwortlich. Andere Angeklagte - derzeit sitzen noch fünf Männer vor Gericht - sollen unterschiedlich beteiligt gewesen sein.
Als im März 1996 in einer Weddinger Wohnung zwei Vietnamesen regelrecht hingerichtet wurden, soll Xuan D. laut Anklage zu den Tätern gehört haben. Er aber bestreitet alle Vorwürfe, und die vietnamesische Kronzeugin wusste nicht so recht, welche Rolle er spielte. Deswegen sieht der Anwalt Chancen für einen Freispruch. Vor etwa einem Monat gewährten die Richter D. Haftverschonung. Weil das Gericht nicht zu einer Verurteilung wegen Mordes neige, hieß es. Xuan D. meldete sich bei der zuständigen Ausländerbehörde in Senftenberg, erschien pünktlich zu den weiteren Verhandlungstagen. Vor knapp zwei Wochen dann die erneute Festnahme: wegen drohender Abschiebung. "Er hat es nicht verstanden, er heulte und schlug gegen die Gitter", berichtet der Anwalt.
Eine Abschiebung während eines laufenden Verfahrens ist nur möglich, wenn die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung gibt. Die erteilte im Fall Xuan D. Staatsanwalt Georg Bauer. Die Aufregung der Rechtsanwälte von D. kann er nicht nachvollziehen. Die Ausweisung sei nichts Außergewöhnliches, sagt er. Das Gericht habe signalisiert, dass wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung eine mehrjährige Freiheitsstrafe gegen D. in Betracht komme, die durch die erlittene Untersuchungshaft abgegolten wäre. Angesichts dieser "realistisch zu erwartenden Situation" habe er einer Ausweisung zugestimmt.
"Abschiebung ist schreiendes Unrecht"
Aus Sicht der Anwälte von D. ist die Abschiebung schreiendes Unrecht. Bis vor kurzem habe die Staatsanwaltschaft noch argumentiert, D. dürfe nicht aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil die Anklage auf eine lebenslängliche Freiheitsstrafe plädieren werde. "Jetzt wissen sie, er wird vom Mordvorwurf freigesprochen. Sie wollen das Urteil nicht entgegennehmen und keine Haftentschädigung zahlen", wirft Spangenberg den Anklägern vor. Gegen Staatsanwalt Bauer werde er Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung erstatten, kündigte er an.
Bereits auf dem Tisch des Gerichts liegt ein Ablehnungsgesuch gegen Richterin Annette Dreher. Sie habe zunächst zugesichert, dass sie mit Bauer sprechen werde, um dessen Zustimmung zur Abschiebung zu vermeiden, sagt Anwältin Kerstin Jakobiedeß. Sie vertritt Xuan D. im ausländerrechtlichen Verfahren. Aber gegenüber einem Senftenberger Amtsrichter, der vor vier Tagen über die Sicherungshaft entscheiden musste, soll plötzlich auch Frau Dreher grünes Licht für eine Abschiebung gegeben und von einer beabsichtigten Einstellung des Verfahrens gegen D. gesprochen haben.
Durch das Verhalten der Richterin habe der Angeklagten D. jegliches Vertrauen in eine gerechte Behandlung verloren, heißt es im Ablehnungsgesuch. Sie habe D. jegliches Recht auf Verteidigung vereitelt. Über den Antrag wird voraussichtlich im Laufe der Woche entschieden - und damit darüber, ob der Streit den Fortgang des Verfahrens bedroht. Die Anwältin Jakobiedeß hat derweil das Verwaltungsgericht Frankfurt/Oder angerufen, um die Abschiebung im letzten Moment zu verhindern.
Kerstin Gehrke