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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Mein Berlin: Wie man Allahs Grillgast im Tiergarten wird

Wenn türkische Familien grillen, bleibt im Tiergarten kein Grashalm auf dem anderen. Manche rümpfen darüber die Nase. Hatice Akyün aber weiß, wie man türkische Herzen erobert - inklusive ein Stück duftendes Fleisch.

Es gibt Menschen, die fahren Cabrio, sitzen in Cafés oder machen Ausflüge zur Ostsee, um das schöne Wetter zu genießen. All das empfindet mein Vater als sinnlose Lebenszeitverschwendung. Sobald die Temperatur oberhalb des Gefrierpunktes liegt, stellt er seinen Grill auf. Dass er sich warm einpacken muss und die Nachbarn sich hinter ihren Gardinen über ihn lustig machen, ist ihm egal. Wenn ich vom Fenster aus zurufe, dass er doch besser den Elektrogrill benutzen solle, fächert er noch heftiger mit einem Stück Pappe und erzeugt dabei so viel Rauch wie ein Diesellastwagen. Es gibt zwei Dinge, die für meinen Vater lebenswichtig sind: essen und reden. In dieser Reihenfolge. Sobald die ersten Sonnenstrahlen herauskommen, fährt er von Park zu Park und macht dort halt, wo seine Familie und der Grill Platz haben. Als er 1972 die ersten Rauchschwaden durch seinen Garten in Duisburg wehen ließ, schauten unsere deutschen Nachbarn noch misstrauisch über den Zaun. Heute ist das alles kein Problem mehr. Sie haben sich längst an die Grillorgien meines Vaters gewöhnt. Auch mein Unverständnis über seinen Grillwahn löst sich in dem Moment in Wohlgefallen auf, in dem das duftende Fleisch auf meinem Teller liegt.

An Sommerwochenenden erinnert mich der Tiergarten ein wenig an das Heimatland meiner Eltern. Aber nicht wegen der kleinen Schönheiten wie dem Rosengarten oder dem wild wuchernden Oleander, nein, wegen der weitläufigen Rasenflächen. Dabei bewundern Türken gepflegtes Grün höchstens auf Fußballplätzen. Im Tiergarten geht es einzig und allein um die Bequemlichkeit. Einen eigenen Garten hat kaum eine türkische Familie in Berlin, und die Balkone sind meist durch Satellitenschüsseln zugestellt. Man muss also ins Freie ausweichen.

Und da es sich auf Gras weitaus besser sitzen lässt als auf Steinplatten im Hinterhof und die Bäume hier auch weit auseinander stehen, bietet der Tiergarten den perfekten Ort, um Eltern, Kinder, Nichten, Neffen, Tanten, Onkel, Großmütter und Großväter zu versammeln und den Grill anzuschmeißen. Man bleibt nicht lange unter sich, es gesellen sich andere Grillgemeinschaften hinzu, ja Wagenkolonnen fahren vor, im Kofferraum und auf dem Dachgepäckträger transportieren sie komplette Wohnungseinrichtungen. Tische, Stühle, Sessel, Sonnenblenden und natürlich den Grill.

Ähnlich muss es auch im Lager der Türken vor den Toren Wiens ausgesehen haben. In kürzester Zeit steigen wohlduftende Rauchwolken auf und dazwischen toben Kinder. Ich muss zugeben, dass die Müllberge, die unfein entsorgten Plastikstühle und die schwarzen Brandkuhlen, die im Park zurückbleiben, kein schöner Anblick sind. Dann schäme ich mich ein bisschen für meine Landsleute. Sobald ich aber das köstlich zubereitete Fleisch rieche, bin ich schnell wieder eine von ihnen.

Die Ordnungsämter haben den Kampf gegen die Invasion türkischer Großfamilien längst aufgegeben. Mittlerweile fahren die Touristenbusse nicht mehr an Bellevue vorbei, um den Amtssitz des Bundespräsidenten vorzuzeigen, sondern um die orientalische Grilloase gegenüber zu präsentieren.

Du kommst als Fremder und gehst als Freund, lautet ein türkisches Sprichwort. Wenn Sie also einem grillenden türkischen Familienvater begegnen sollten, gehen Sie zu ihm und sagen Sie freundlich: „Tanri misafiri kabul ediyormusunuz – habt ihr für Allahs Gast einen Platz an eurem Tisch?“ Ich verspreche, dass Sie sofort zum Essen eingeladen werden. Nur keine falsche Scham, essen Sie, soviel Sie können, Sie werden es ganz sicher nicht bereuen. Oder wie mein Vater sagen würde: Can bogazdan gelir – der Weg ins Herz führt über die Kehle.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag.

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