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Berlin: "Wir lassen uns den Bahnhof nicht nehmen"

"Was macht ein Tourist, der nach Berlin kommt und keine Obdachlosen sieht? Der denkt doch, er ist in Bonn.

"Was macht ein Tourist, der nach Berlin kommt und keine Obdachlosen sieht? Der denkt doch, er ist in Bonn." Die junge Frau ist empört über das Vorhaben der Bahn, die Essensausgabe der Bahnhofsmissionen in eine Zweigstelle unter den S-Bahnbögen auszugliedern. Am Mittwochabend ist in der Kapelle der Gedächtniskirche kein Platz mehr frei. Bahn-Vertreter Willi Meurer, Vorstandsmitglied im Unternehmensbereich Personenbahnhöfe, hat sich in die Höhle des Löwen gewagt - und den Haus-Sender Bahn-TV gleich mitgebracht.

"Essensausgaben ziehen genau die Klientel an, die nicht in der Zuständigkeit der Bahn liegen", verteidigt Meurer auf dem Podium den Vorstoß seines Chefs. Bahnhöfe seien das Eingangstor zum "System Bahn" und zur Stadt. "Fahrgäste wollen im Bahnhof Sicherheit und eine gute Atmosphäre. Hier sind wir auf einem guten Weg." Ein Weg, den die Mehrheit in der Kirche offenbar nicht mitgehen will. Die Menge johlt und lacht.

"Friede-Freude-Eierkuchen mit Einkaufen wollen die Leute nicht", sagt Heinz Czaplewski vom Selbsthilfeverein Stütze ins Mikrofon. "Ich bin Bürgerin und Noch-Bahnkundin. Ich möchte nicht, dass in meinem Namen Leute in der Kälte stehen müssen", wirft eine Frau im Publikum ein und erntet Beifall. Die Leute stehen Schlange am Saalmikrofon wie sonst vor den Ticketschaltern. "Wem gehört die Stadt eigentlich?", fragt Dietmar Lütz, Leiter der Armutskonferenz im Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg. Für Heinz Czaplewski ist die Antwort eindeutig: "Die Stadt ist für alle da. Daher müssen Öffentliche Plätze öffentlich bleiben." Martina Schmiedhofer, Sozialstadträtin in Charlottenburg-Wilmersdorf, zeigt sich besorgt: "Vertreibung ist der Anfang einer Säuberung öffentlicher Orte von Menschen. Und das halte ich für ganz gefährlich." Auch Franz-Heinrich Fischler, Direktor des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin, sieht die Gefahr, in eine "repressive Gesellschaft" abzugleiten. Frau Schmiedhofer: "Es ist ein Ausdruck sozialer Verantwortung von Großstädten, wie mit Minderheiten umgegangen wird." Dietmar Lütz gibt zu bedenken, dass die Bahn-AG zwar legal handle, da sie ihre Hausordnung durchsetze - aber sie müsse sich ihrer sozialen Verantwortung stellen.

Die Obdachlosen geben sich kämpferisch: Bahnhöfe seien und blieben Treffpunkte - mit Schließfächern, mit der Möglichkeit, um Kleingeld zu bitten, Zeitungen zu verkaufen. "Wir lassen uns den Bahnhof Zoo nicht nehmen", ruft Czaplewski. Möglicherweise gibt es also demnächst zwei Treffpunkte für Menschen ohne Dach überm Kopf in der West-City: Die Bahnhofsmission ohne offizielle Essensausgabe im Zoo - und die neue Zweigstelle mitsamt Bewirtung in den S-Bahnbögen Tiergarten.

Judith Kessler

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