zum Hauptinhalt
Mit Kafka und Deleuze im Handgepäck. Joseph Vogl.

© imago/Christian Thiel

Fallen, Steigen, Schweben: Joseph Vogls Abschiedsvorlesung

Nach 16 Jahren an der Berliner Humboldt-Universität beginnt der renommierte Literatur- und Kulturwissenschaftler einen neuen Lebensabschnitt

Von Gregor Dotzauer

Wie könnte man einem „Versuch über das Schwebende“ trauen, wenn er nicht geeignet wäre, sich über die Umstände seines Vortrags selbst zu erheben. Nicht dass an den Voraussetzungen zu rütteln wäre, unter denen sich das geisteswissenschaftliche Berlin im HU-Gebäude am Hegelplatz zur Abschiedsvorlesung des Germanisten Joseph Vogl zusammenfand. Auch akademischer Schweiß fließt nicht edler, wenn die Raumtemperatur sich in Richtung Körpertemperatur bewegt, in den Seitengängen des Hörsaals 1.101 Studierende und Lehrende in mehreren Schichten praktisch übereinander liegen und Sauerstoffmasken nützlich wären.

Wenn dann, ohne jeden Okkultismus, doch eine Art Levitation erfolgt, die nicht einmal das Erhabene adressieren muss, zeigt sich darin vielleicht das besondere Talent eines Redners, der es als Virtuose intellektueller Verknüpfungen weit gebracht hat – und nicht zuletzt im Dialog mit Alexander Kluge ein Publikum erreicht hat, das sonst auf literaturwissenschaftliches Denken pfeift.

Zaudern mit Realitätssinn

Vor 16 Jahren, bei seiner Antrittsvorlesung, war es ein „Zaudern“, das Joseph Vogl nicht als handlungshemmende Unentschiedenheit betrachten wollte, sondern als einen erhöhten Realitätssinn im Angesicht vielfältiger Gefahren. Nun war es die Idee eines Schwebens, das er bestimmten Erscheinungsformen der Wirklichkeit zuschreiben wollte: im Widerspruch zu einem rein mechanistischen Weltverständnis - und als erkenntnistheoretische Grundlage der eigenen Zunft. Literatur ist ein anderer Forschungsgegenstand als Genetik.

Wie gravitationswidrig es zugehen kann, zeigt etwa Kapitel 45 im Nachlassband von Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ unter dem Titel „Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse.“ Man begegnet darin dem inzestuösen Geschwisterpaar Ulrich und Agathe.  Er hat ihr gerade „mit sanfter Wildheit“ in den Hals gebissen, worauf sie sich weniger durch die Luft fliegen als „vielmehr in dieser ruhen fühlte, von aller Schwere plötzlich entbunden“. Derart, heißt es, „streifte sie noch den letzten Seidenfaden von Zwang ab, wandte sich fallend ihrem Bruder zu, setzte gleichsam noch im Fall das Steigen fort, und lag niedersinkend als eine Wolke von Glück in seinen Armen.“ Auf die paradoxe Parallelität von Steigen und Sinken kommt es Vogl an, und das nicht als fiktionale Kapriole, sondern als unaufhebbares Moment von Naturbetrachtung schlechthin.

Aus immer neuen Perspektiven plädierte er mit  Aristoteles‘ naturphilosophischer Schrift „Meteorologica“ für eine „Ontologie des Werdenden“, die sich gegen die bloße Lehre vom Seienden profiliert. Ausgehend von Italo Calvinos Norton Lectures über Leichtigkeit an der Harvard University, die dieser nicht mehr halten konnte, weil ihm der Tod dazwischenkam, durchquerte Vogl ein weites Feld: von Lukrez‘ Lehrgedicht „Über die Natur der Dinge“ bis zu seinen Helden Franz Kafka und Gilles Deleuze, um zu einem „Empirismus des Flüchtigen“ zu gelangen.

Ein besonders dankbares Studienobjekt bilden dabei Wolken. Als Übergangsphänomen par exellence beschäftigte es auch Goethe, der in späten Jahren ein Wolkentagebuch führte. Auf der Grundlage von Klassifikationen, die der englische Apotheker Luke Howard 1803 in „The Modification of Clouds“ mit heute noch gültigen Begriffen wie Cirrus, Stratus und Cumulus traf, habe er, so Vogl, eine Ästhetik des Erscheinens angestrebt und in Anknüpfung an die Farbenlehre „Ereignisse im Trüben“ gesucht: „Die Wolke zeigt sich im Dissimulieren.“

Ursprache ohne Substantive

Das verlangt nach einer eigenen Sprache. Was Goethe in langen Partizipialreihungen einfing, erfand Jorge Luis Borges in seiner Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ gleich zu einer Ursprache, die ohne Substantive auskommt. „Der Mond geht über dem Fluss auf“ würde auf Tlönisch „Empor hinter dauerfließen mondet es“ heißen. Auch Vogl scheint von einer Grammatik zu träumen, das einem „Handeln ohne Handelndes“ gerecht wird, indem sie ein Denken begünstigt, in dem das Ereignishafte und das Paradigmatische zusammenfallen.

Das „Flimmern des Einzelfalls“, dessen Singularität in seiner ganzen historischen Kontingenz einen diskursiven Zusammenhang erzeugt, bildet den Fluchtpunkt von Vogls Denkwegen. Das Ephemere soll ein Paradigma des Paradigmatischen selbst werden – ein Wunsch, bei dem, wie Vogl eingestehen musste, ein Wissenschaftstheoretiker wie Thomas S. Kuhn die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte. Vielleicht sind Vogls Vorstellungen aber auch gar nicht so weit von Charles Baudelaires „Schock“ oder Karl Heinz Bohrers „Plötzlichkeit“ entfernt.

Am Ende ein Aphorismus von Kafka: „An diesem Ort war ich noch niemals: Anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern.“ Er begleitet Vogl wohl schon eine Weile, und wie er ihn, staunend über den Anlass, zu dem er seine volle Wirkung entfalten konnte, gleich zweimal verlas, lag in der Wiederholung der Zauber der Stunde. Ein Abschied, ein Neubeginn. Joseph Vogl hielt dabei ein wundersames Gleichgewicht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false