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Protest gegen die Regierung: Ein Demonstrant mit der Flagge Chiles in Santiago

© AFP/Martin Bernetti

Protest und Unruhen in Chile: „Das erhoffe ich mir, dass es nicht umsonst war“

In Chile demonstrieren seit Wochen die Massen. Der Auslöser waren steigende Preise für die U-Bahn. Der eigentliche Grund ist das Erbe Pinochets.

Als die Proteste losgingen, die ersten Menschen auf die Straße zogen und auf Kochtöpfe hämmerten, erinnerte sie sich an die Worte ihres Vaters: ein Gewerkschafter, der nach Pinochets Putsch 1973 im zum Folterzentrum umfunktionierten Nationalstadion in Santiago eingesperrt gewesen war. Er hatte ihr beigebracht: „Unsere Würde kann uns niemand nehmen.“ Natalia Pérez packte die Kinder und wollte auf die Straße. „Endlich sagten die Leute basta! Wir mussten unsere Wut zeigen.“ Es war ihr Mann, der sie zurückhielt.

„Es ist zu gefährlich, hat er gesagt. Alex war ein friedlicher Mensch.“ Die Regierung hatte den Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre verhängt. Panzer rollten durch die Straßen.

Alex Núñez selbst, von Beruf Mechaniker, ging zur Arbeit. Nicht lange danach war er tot. Auf dem Rückweg nach Hause, so hat es Natalia Pérez rekonstruiert, stoppte er im Park um die Ecke, aß eine Portion Pommes frites, papas fritas, und geriet in eine Gruppe Demonstranten. Drei Polizisten umkreisten ihn, warfen ihn zu Boden und schlugen zu. „Schädel-Hirn-Trauma“, sagt Natalia Pérez. „Im Krankenhaus sagten sie mir, es ist, wie wenn du mit dem Motorrad mit voller Geschwindigkeit gegen eine Wand rast.“ Pérez beißt sich auf die Lippen.

Wenn sie davon erzählt, sagt sie, stellt sie sich vor, wie sie auf ihren Mann eingetreten und eingeschlagen haben müssen, mit Stahlkappenstiefeln und Schlagstöcken. „Wie allmächtig fühlen sie sich in ihren Uniformen, das macht mich so wütend.“ Dann bricht ihre Stimme.

Tränengas gehört zum Alltag

Mannschaftswagen an den Straßenecken gehören längst zum Alltag in Santiago, der Hauptstadt Chiles. Polizisten in militärgrüner Kampfmontur, Überwachungskameras und längst auch das beißende Tränengas. Eine Protestwelle überrollt seit zwei Monaten das Land und will nicht abebben. Dabei hatte alles ganz klein begonnen.

Tränengas – deswegen hat Franco Valdés neben Heften und Büchern immer auch eine Gasmaske im Rucksack. Der 17-Jährige ist Schüler am renommierten Instituto Nacional im Zentrum Santiagos. Salvador Allende lernte auf der Sekundarschule, wie andere Präsidenten Chiles auch. Doch derzeit findet kein Unterricht an der Kaderschmiede statt. Der modernistische Betonklotz aus den 1970er Jahren gleicht einer Trutzburg. „Polizisten und Soldaten sind Auftragsmörder der Reichen“, hat jemand auf eine Wand gesprüht, eine Gruppe zieht mit ohrenbetäubendem Trommellärm vorüber.

Franco Valdés will von hier mit Schulkameraden zur Plaza Italia ziehen, Verkehrsknotenpunkt der Stadt und, seit Mitte Oktober, Epizentrum der täglichen Demonstrationen. Das Instituto Nacional ist deren Keimzelle.

Angefangen haben die Proteste mit dem Ärger über die unbequemen Stühle, die seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht ausgetauscht wurden, über kaputte Toiletten, Lehrermangel. In die staatliche Schule wird nichts investiert, sagt Franco Valdés, „außer in Überwachungskameras“, und die filmen direkt auf den Schulhof.

Gewalt auf den Straßen von Santiago im Oktober

© AFP/Pedro Ugarte

Militär auf den Straßen

Bildung ist in Chile weitgehend privatisiert – ein Erbe der Diktatur von Augusto Pinochet, der foltern und morden ließ und Chile, mithilfe seiner in den USA ausgebildeten „Chicago Boys“, zum Experimentierlabor eines radikalen Neoliberalismus machte. Fast alles liegt in privater Hand. Auch Gesundheit, Renten, die Wasserversorgung. Das Wirtschaftsmodell wurde durch die Verfassung zementiert, sie besteht fort, auch 30 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie.

Als Anfang Oktober die Preise für Santiagos Metro angehoben wurden, waren es die Schüler des Instituto Nacional, die zum kollektiven Schwarzfahren aufriefen und johlend über die Drehkreuze sprangen. Und es sind Minderjährige wie Franco Valdés, die von der Polizei in den Würgegriff genommen und von der Regierung als Verbrecher bezeichnet werden. Bald brennen U-Bahn-Stationen, Supermärkte werden geplündert und Präsident Sebastian Piñera spricht von Krieg, seine Frau von einer „Invasion Außerirdischer“. Das Militär wird auf die Straßen geschickt, erstmals seit Ende der Diktatur.

Natalia Pérez, sie ist Krankenpflegerin, sitzt müde in ihrem Sessel in Maipú, einem Viertel im Südwesten Santiagos. In der Küche klappert ihre Mutter am Herd. Sie wohnen hier alle zusammen, die 39 Jahre alte Pérez, ihre vier Kinder, die Eltern. Die Hälfte ihres Lohnes, umgerechnet 700 Euro und damit über dem chilenischen Durchschnitt, gibt sie für Gas, Strom und Transport aus, sagt sie. Vom Rest kauft sie Essen und die Medikamente für die zuckerkranken Schwiegereltern. Insulin ist teuer, die Rente knapp, also gehen die beiden zusätzlich Aluminiumdosen sammeln, für die sie etwas Geld hinzubekommen.

Der älteste Sohn arbeitet, um irgendwann studieren zu können. Und als der jüngste ein Geschwür am Knie bekam, musste er fast ein Jahr auf die Untersuchung warten. Eine normale chilenische Mittelschichtfamilie. Bis zu jenem Wochenende Mitte Oktober, das alles veränderte.

„Chile ist aufgewacht“

„Chile Despertó“, Chile ist aufgewacht, singen die Menschen auch an diesem Tag Ende November. Sie klopfen auf Pfannen und Kochtöpfe, haben Pappschilder dabei. „Wir sind die von unten gegen die da oben“, steht auf einem, „Die Regierung stellt sich taub, das Volk ist müde“ auf einem anderen. Alle haben Halstücher, manche sogar Helme und Gasmasken dabei gegen das Gas, das wie eine Smogwolke über der Stadt liegt, selbst hier, im wohlhabenden Providencia-Viertel im Osten. Der gläserne Wolkenkratzer des Einkaufszentrums „Costanera Center“ glitzert im Mittagslicht, Anzugträger surren auf Elektrorollern vorüber. Ein Autofahrer beschimpft wild gestikulierend die Protestierenden, die meisten aber hupen zustimmend, winken, strecken zustimmend die Daumen hoch.

Währenddessen brennen wenige Meter entfernt, dort wo sich die Avenida Tobalaba und die Apoquindo-Allee kreuzen, Barrikaden. Erste Steine fliegen, die Scherben der Glasscheibe einer Bushaltestelle liegen am Boden. Polizisten rücken vor, feuern Gummigeschosse und Gaskartuschen. „A-se-sinos! A-se-sinos! A-se-sinos!“, Mörder!, brüllt die Menge.

Dann plötzlich rast ein gepanzerter Kastenwagen auf die Gruppe zu, dreht kurz davor ab und hüllt die Menge in Reizgas. Die Demonstrierenden hält das nicht ab. „Als ich im Fernsehen sah, wie die Polizisten minderjährige Schüler zusammenschlagen, war das zu viel für mich“, sagt Inghirian Aguilera. Seit Mitte Oktober geht sie auf die Straße, gemeinsam mit ihren Kommilitonen, fast jeden Tag nach den Seminaren. Nun bindet sie sich ihr Tuch über Mund und Nase. Zitronen werden verteilt, ein Mann geht mit einer Sprühflasche umher, spritzt mit Natron versetztes Wasser in gerötete Augen.

Seit zwei Monaten protestieren Chilenen.

© Martin Bernetti/AFP

Vorzeigeland in Südamerika

Wie alle ihre Freunde ist Inghirian Aguilera auf Jahre verschuldet, sagt sie, obwohl sie neben dem Studium als Kellnerin jobbe und noch bei den Eltern lebe: Für den Wunschstudiengang Umweltwissenschaften reichte das Geld trotzdem nicht. Nun will sie Journalistin werden, aber auch dafür zahlt sie umgerechnet 4500 Euro im Jahr plus Zinsen für einen Studienkredit, der ihr nicht einmal die Hälfte davon finanziert.

Der Mindestlohn liegt in Chile bei knapp 430 Euro pro Monat. Die Lebenshaltungskosten sind ähnlich hoch wie in Deutschland. „Die Regierung stellt sich taub“, schimpft Aguilera. „Die sieht gar nicht, wie wir uns abrackern.“ Ihre Familie zwänge sich in eine kleine Bleibe am Rande von Santiago, wo sie sich tagein, tagaus streitet. „Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre“, ruft Inghirian Aguilera. Längst wird in Chile die Systemfrage gestellt.

Dabei galt Chile in Südamerika als Vorzeigeland. Keiner der Nachbarstaaten ist in den vergangenen 25 Jahren wirtschaftlich so gewachsen, die Armutsrate sank, man sprach vom „lateinamerikanischen Jaguar“, in Anlehnung an die asiatischen Tigerstaaten. Doch das Versprechen vom sozialen Aufstieg entpuppte sich vor allem für die sogenannte neue Mittelschicht als Hamsterrad.

Alex Núñez – Natalia Pérez’ Mann – ist einer von mindestens fünf Toten, für die staatliche Sicherheitskräfte verantwortlich sein sollen. Insgesamt kamen bei den Massenprotesten und Plünderungen bislang mindestens 26 Menschen ums Leben. Einer der letzten Gestorbenen konnte nicht ins Krankenhaus gebracht werden, weil die Polizei seine sichtbar markierten medizinischen Helfer mit Geschossen und Tränengas überzogen hatte. Bis Mitte Dezember registrierten Krankenhäuser rund 3400 Verletzte, alle wegen Tränengas, Gummigeschossen, Schrotkugeln oder „nicht identifizierten Feuerwaffen“, meldete das chilenische Menschenrechtsinstitut INDH. Darunter sind mehr als 350 schwere Augenverletzungen. Die Bilder von blutverschmierten Augenbinden sind zum Symbol für die Polizeigewalt geworden.

Massive Menschenrechtsverletzungen

Auf der Augenstation des Salvador-Krankenhauses von Santiago arbeiten die Ärzte am Limit: „Ich habe so etwas noch nie erlebt“, sagt der Stationsarzt Mauricio Lopez, er spricht von einer „Epidemie“. 80 Prozent der Verletzungen gehen auf Gummigeschosse zurück, hart wie Skateboard-Räder, das ergab eine Studie der Universität von Chile, versetzt sind sie mit Blei. Betroffene berichten immer wieder davon, dass aus kurzer Entfernung und auf Gesichtshöhe geschossen werde.

Untersuchungen von Amnesty International, Human Rights Watch und den Vereinten Nationen kommen zu dem Schluss: Es gibt massive Menschenrechtsverletzungen. Die Rede ist von Folter, Misshandlungen, sexueller Gewalt. „Es geht nicht um einige faule Äpfel“, heißt es von Amnesty International. „Die Verantwortung liegt in der Befehlskette und geht bis ganz oben.“

So sieht das auch Nelson Iturriaga, er trägt eine Schutzklappe über dem linken Auge, mit dem der 43-Jährige nie wieder sehen können wird. Am 21. Oktober schoss ihm die Polizei Schrotkugeln ins Gesicht. Eine ist unterhalb des Augenlides eingedrungen und dann in der Nasenscheidewand stecken geblieben, die Netzhaut ist abgelöst, es gibt innere Verletzungen. Er sagt, er traut sich heute kaum mehr aus dem Haus: „Ich bekomme Panikanfälle, sobald ich Lärm höre“, sagt er. Und trotzdem wolle er wieder auf die Straße: „Ich muss es tun, für meinen Sohn.“

Präsident Sebastian Piñera bedauert inzwischen, es habe „Exzesse“ und „Verstöße“ gegeben, die untersucht und verurteilt werden müssten, er spricht jedoch weiter von Einzelfällen. Außerdem kündigte er Gesetzesprojekte an, welche die Befugnisse des Militärs ausweiten und das Vermummen auf Demonstrationen verbieten. Und das in einem Land, das bis vor 30 Jahren eine Militärdiktatur war.

Abstimmung über eine neue Verfassung

Eine grundlegende Reform der Sicherheitsbehörden steht nach wie vor aus. Und so fegten sie weiter jeden Protestkeim mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Tränengas von der Straße. Doch diesmal kommen die Demonstranten am nächsten Tag trotzdem wieder, sie besetzen die Straßen um den Regierungspalast la Moneda, stürzen Statuen von einstigen Kriegshelden, setzen ihnen im Zeichen der Proteste Kochtöpfe auf, verbinden ihnen die Köpfe mit blutroten Augenbinden.

Überall im Land finden derzeit sogenannte Cabildos statt, Bürgerversammlungen, in denen die Menschen darüber diskutieren, wie das Chile aussehen soll, in dem sie in Zukunft leben wollen. So erreichten die Demonstranten einen historischen Erfolg: Im April, so entschieden Regierung und Parlament, sollen die Chilenen über eine neue Verfassung abstimmen.

Natalia Pérez erhebt sich aus ihrem Sessel in Maipú, tritt auf die Straße, es sind nur wenige Meter, einmal um die Straßenecke, zum Park, wo ihr Mann zusammengeschlagen wurde. Sie zeigt auf ein breites Mauerbild hinter dem Kinderspielplatz, das Nachbarn gemalt haben, direkt gegenüber von einer ausgebrannten und mit Parolen beschmierten Metrostation. Links außen beginnt es mit Schülern, die über Drehkreuze springen, dann sind Proteste abgebildet, Polizisten, Gewalt. In der Mitte steht in geschwungenen Lettern der Name ihres Mannes. Rechts daneben sind feiernde Menschen mit erhobener Faust zu sehen. „Das erhoffe ich mir“, sagt Natalia Pérez. „Dass es nicht umsonst war.“

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