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© Illustration: Suse Grützmacher

Literatur für den Lockdown: Der Tick

Früher sang sie Opern, die Presse war begeistert, die Intendanten auch. Doch seit der Krise hört niemand mehr zu. Was tun? Krähen! Eine Erzählung

Stand:

Charlotte Krafft hat zuletzt den Erzählband „Die Palmen am Strand von Acapulco, sie nicken“ veröffentlicht. Die 29-jährige Berlinerin ist Mitglied der Gruppe „Rich Kids of Literature“.

Wie das begann. Das begann im Herbst des ersten Krisenjahres. In den drei Anfangsmonaten der Krise war die Verunsicherung noch eine willkommene Ausnahme gewesen, eine verbindende Gemeinsamkeit, der Scherz, den jede*r verstand. Im vierten Monat war der Scherz schal geworden, und die ersten scherten aus. Im fünften Monat war die ziellose Rache ausgebrochen, im sechsten breitete sie sich aus, im siebten erreichte sie die Massen, und im siebten Monat begann auch das mit dem Tick.

Eineinhalb Jahre zuvor hatte ich mit meiner ersten Hauptrolle die Aufmerksamkeit der Opernwelt auf mich gezogen. Die Presse war begeistert gewesen, ich hatte mich vor Angeboten kaum retten können. Als Violetta, Angelica, sogar als Norma hatte ich auf der Bühne gestanden und abends mit dem Intendanten der Staatsoper im Restaurant Filet Mignon gegessen. Nun, wenige Monate später, interessierte sich kein Hinterhoftheater mehr für meine Stimme, und ernähren musste ich mich von Eiern, Kartoffeln und H-Milch. Ich übertreibe wenig! Tatsächlich konnte ich mich mit der geringen Arbeitslosenhilfe gerade so über Wasser halten. Und ich hatte noch Glück! Andere hatten viel härteres Brot zu beißen. Kein Wunder also, dass die Leute verrückt wurden, kein Wunder, dass sowas passierte.

Den Frust loszuwerden, war zur fundamentalen Notwendigkeit geworden

Ich kann mich noch gut an das erste Mal erinnern. Ich war bei Kolleg*innen zum Essen eingeladen. Es muss jemand Geburtstag gehabt haben, denn es gab Rinderrouladen. Und Rind, das konnte sich ja sonst niemand von uns leisten. Hunger hatte keiner, aber die Einschränkungen, die kleinen Kalamitäten und Unbequemlichkeiten wurden immer spürbarer, und den Frust darüber loszuwerden, war zur fundamentalen Notwendigkeit geworden. Um eben keine Schaufenster einzuschlagen, den Hund nicht verrecken, den Garten nicht vergammeln und die Sitten nicht verrohen zu lassen, um die eigene Wohnung nicht in Brand zu setzen, dem Chef nicht in den Bauch zu treten, in der Bahn nicht auf den Sitz zu kacken, nicht die Hand auf den Herd zu legen oder den Kopf auf den Tisch zu schlagen. Um nicht auszuscheren!

Die Berliner Autorin Charlotte Krafft, 29.

© William Minke

In unseren Gesprächen ging es also nicht mehr um unliebsame Kolleg*innen, um die neue Intendanz, Projekte, Preise und Aufträge. Es ging um unsere Nöte. Und je später es wurde an solchen Abenden, desto dringender und desto schamloser wurden die Klagen. Manchmal konnten wir uns auch voreinander nicht mehr retten, dann warfen wir einander vor, es jeweils besser zu haben.

Die Wut hatte sich verwandelt in ein unwiderstehliches Bedürfnis

Meistens war das der Zeitpunkt, an dem ich nach Hause ging. An diesem Abend jedoch blieb ich, vielleicht weil ich betrunken war vom vielen selbstgebrannten Birnenschnaps, vor allem wohl aber, weil ich etwas loswerden wollte. Ich weiß nicht mehr genau, was es war – irgendeine Erfahrung oder Beobachtung, die mir plötzlich wichtig vorkam oder zumindest interessant. Doch das Gespräch hatte sich zu einem undurchsichtigen Knäuel aus Themen, Vorwürfen und Geständnissen entwickelt, in dem ich keinen Anschluss fand. Mehrmals lehnte ich mich vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch, wie es jemand tut, der etwas sagen möchte, doch man ließ mich nicht zu Wort kommen.

Weshalb ich das erzähle. Weil ich glaube, dass meine Wut und meine Verzweiflung darüber, nicht gehört zu werden, auch hier nicht gehört zu werden, ein Auslöser für das waren, was dann geschah. Da war der Zorn, und dann war da etwas anderes, es ist schwer zu beschreiben, vielleicht so: Die Wut hatte sich verwandelt in ein unwiderstehliches Bedürfnis. So selbstverständlich und dringend wie ein Hustenanfall, Harndrang oder Brechreiz. Das heißt, ich konnte es nicht aufhalten, höchstens wenige Sekunden lang, was ich nicht tat. Ich gab nach, ich krähte aus vollem Hals.

Illustration: Suse Grützmacher

© Illustration: Suse Grützmacher

Am Tisch herrschte mit einem Schlag Grabesstille. Eine junge Mezzosopranistin unterdrückte ein Lachen. Jemand anderes schluckte leise. Ich spürte, wie mir die Röte im Gesicht aufging und hörte die Geräusche, die mein Magen machte. Jedes Detail dieser Situation hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Deutlich, unauslöschlich, manchmal schmerzhaft, wie eine Narbe. Sowas. Vergisst. Man. Nicht.

Anfangs hielt ich meinen Ausbruch noch für eine Art nervösen Anfall oder Tick. Ich suchte verschiedene Ärzt*innen und Psycholog*innen auf, sogar eine Logopädin. Einige glaubten mir nicht, manche legten ratlos die Hände in den Schoß, andere verschrieben mir Beruhigungsmittel, und die Logopädin empfahl mir, mit Kamillentee zu gurgeln.

Wie es weiterging mit dem Krähen. Nun, zum zweiten Mal passierte es während eines Spaziergangs mit einem Freund, den ich noch nicht lange kannte und mehr bewunderte als liebte. Er, stadtbekannter Tenor und Dichter, der sich vor allem mit seiner Interpretation von Canios Lamento einen Namen gemacht hatte, wirkte für mich immer auf eine einschüchternde Weise fragil, wie ein zierliches Porzellanschälchen, das alles aufzunehmen bereit ist, aber nur in sehr geringen Mengen. Wenn er sprach, sprach er mit leiser Stimme, und wenn er lief, lief er mit kleinen Schritten. Außerdem trug er zu jeder Jahreszeit eine Mütze und einen grünen Seidenschal.

Ich entschuldigte mich mehrfach, nachdem es vorbei war

Dieser Schal war es, der an jenem Tag seltsam meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Wir schlenderten gerade am Friedhof vorbei, wobei mein Freund mir von seinem Beschluss erzählte, sich im Leben mehr zurückzunehmen. Er fühle sich immer stärker einer reinen Beobachterrolle zugeneigt, sagte er, und sehne sich nach Ruhe, nach Einfachheit und schlichter Schönheit. Und während er mir seine Auffassung von Schönheit erläuterte, bemerkte ich, wie er einen Zipfel seines Schals zwischen den Fingern hielt und in einem fort mit dem Daumen darüberstrich, als sei es das Ohr einer Katze. Gebannt sah ich ihm dabei zu, und mit jedem Streichen, mit jedem Wort wurde mir unwohler. Eine Art Übelkeit stieg in mir auf, und mit dieser Empfindung oder aus dieser Empfindung heraus, jenes dringende körperliche Bedürfnis, das ich schon kannte.

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Ich entschuldigte mich mehrfach, nachdem es vorbei war. Voller Scham erklärte ich, es handle sich wohl um eine Art Tick. Der Freund sah mich mit halbwegs kontrollierter Irritation an. So, als wisse er schon, womit er es zu tun habe, als habe er nur gerade jetzt nicht damit gerechnet. Dann winkte er ab, lächelte und fuhr fort, von Schönheit und Einfachheit zu reden. Doch dabei blieb es nicht: Als er gerade auf japanische Zen-Gärten zu sprechen kam, nebenbei mit dem Zipfel des Schals sein Kinn betupfte, verstummte er plötzlich mitten im Satz, der Kopf fiel ihm in den Nacken, feucht blieb der Schal an seiner Lippe hängen, und dann krähte er, krähte den gottverlassenen Himmel an.

Tagelang hörte man ständig und überall auf den Straßen irgendjemanden krähen

Erst dachte ich, er würde mich verspotten, doch sein Ausdruck verriet, dass mein Freund selbst nicht wusste, wie ihm geschah. Mit hängenden Armen, mit bebender Unterlippe, an der immer noch der grüne Seidenschal hing, stand er da. Ich fand meine Fassung schneller wieder als er, legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter, und als er sich gefangen hatte, sagte er mit sehr leiser Stimme, er müsse jetzt dringend nach Hause gehen und nachdenken. Also trennten wir uns, doch zwei Tage später bekam ich einen Anruf, und mein Freund erzählte mir, wie er schon wieder habe krähen müssen, gestern Abend, während einer Unterhaltung mit seiner Freundin! Aber, rief er völlig außer sich, das Erstaunlichste sei, dass seine Freundin heute Morgen beim Frühstück ihrerseits zu krähen angefangen habe. Sei das denn zu glauben?

Zu glauben war für mich inzwischen fast alles. So wunderte es mich auch nur ein wenig, dass sich unser Tick innerhalb weniger Wochen in fast der gesamten Kulturszene der Stadt ausgebreitet hatte. Tagelang hörte man ständig und überall auf den Straßen irgendjemanden krähen, woraufhin Passant*innen und Anwohner*innen genervte Blicke austauschten, die Fenster schlossen oder die Straßenseite wechselten. Es soll sogar zu regelrechten Anfeindungen gekommen sein, da die Leute sich nicht selten veralbert oder provoziert fühlten.

Zu unser aller Erleichterung begann sich das Krähen jedoch bald zu normalisieren. Das heißt: Mir fiel auf, dass es nur noch selten als Reaktion auftrat, sondern immer öfter zu geregelten Zeiten ohne bestimmte Ursache. Meine Freunde schilderten dieselbe Entwicklung, und als der Dezember anbrach und der erste Schneeregen fiel, hatte sich das Chaos soweit gelegt, dass in der ganzen Stadt ausschließlich morgens von sieben bis acht gekräht wurde.

Klatschen

© Illustration: Suse Grützmacher

Noch erfreulicher aber war, dass auch die übrige Stadtbevölkerung sich nicht nur an das allmorgendliche Gelärm gewöhnte, sondern es sogar zu schätzen lernte. In diesen Zeiten der Verunsicherung gebe es den Menschen ein Gefühl von Vertrautheit, Stabilität und Zusammenhalt, hieß es in sozialen Medien und Lokalzeitungen. Oft sah man morgens die Menschen ihre Köpfe aus den Fenstern strecken und lächelnd dem Krähen lauschen, einige ließen sich sogar dazu verleiten, mit einzustimmen, auch wenn sie nicht vom Tick betroffen waren.

So vergingen die Tage, und Weihnachten rückte näher. Die Festtage sollten, hierin war man sich einig, eine Ausnahme sein von der Ausnahme, eine Erholung bieten von all der Mühsal. Uns dieser Bedeutung bewusst, organisierten wir für den Morgen des 24. Dezember ein ganz besonderes, musikalisch begleitetes Kräh-Spektakel.

Zu Hunderten trafen wir uns um sieben in der Früh auf dem Marktplatz, Krähende und Musizierende, um eine halbe Stunde später das wohl außergewöhnlichste Konzert der Geschichte anzustimmen. Zwischen Lichterketten, im Nieselregen, zwischen LED-Kerzen und Heizpilzen standen wir und krähten, trommelten, trompeteten, eingehüllt im Dampf, der unseren Glühweinbechern entstieg, angefeuert vom Lachen und Klatschen der Umstehenden, vom fröhlichsten Lärm seit langem. Graugelbe Wolken hingen über uns, die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber unsere Herzen waren es, ja, sie waren offen und voller Licht. Das war der Höhepunkt.

Nicht mehr angemessen, nicht mehr notwendig, hieß es

Danach ging es noch etwa ein Jahr mit dem morgendlichen Krähen weiter, bis das Ende der Krise in Sicht kam und damit auch der Alltag wieder einsetzte. Die Leute wurden des Krähens überdrüssig. Nicht mehr angemessen, nicht mehr notwendig, hieß es. Und wenn wir morgens unsere Köpfe in die Winterluft streckten und die Schnäbel öffneten, schlossen andere ihre Fenster, und hinter dicken Glasscheiben sah man ihre Gesichter sich ab- und Wichtigerem zuwenden. Also hörten wir auf, einer nach dem anderen, ehe man uns dazu auffordern musste. Und das war’s.

Tja. Früher hatte man mich angehört, weil man es angeblich nicht musste. Dann krähte ich, dass man mich hören sollte. Und schließlich verstummte ich, weil man sich die Ohren zuhielt.

Heute. Heute brülle ich.

Charlotte Krafft

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