
© Ann-Kathrin Hipp
Berliner Schnauzen: Die Einsamkeit im Alter
Es heißt: Narben auf dem Körper zeigen, dass man gelebt hat. Narben auf der Seele zeigen, dass man geliebt hat. Der Pampashase Schlitzohr hat beides.
Stand:
Was soll’s. Er braucht sie nicht. Braucht niemanden. Dann machen sie eben zu zweit ihr Ding und hoppeln auf die andere Seite des Geheges, sobald er ihnen zu nahekommt. Wen interessiert’s? Ihn bestimmt nicht. Rudel werden sowieso überbewertet. Schlitzohr steht da drüber. Beziehungsweise sitzt. Oder liegt. Weil anders lässt sich diese Hitze kaum ertragen.
Sie sind hier zu dritt im Zoo. Drei Männer, alle Junggesellen, große Pampashasen. Tatsächlich gehören sie zur Familie der Meerschweinchen. Aber weil sie mit ihren langen Beinen, den großen Ohren, der Schnuffelnase und dem Stummelschwanz ein bisschen aussehen wie Riesenkaninchen auf Rehbeinen, haben sie irgendwann mal diesen Namen bekommen.
Pampashasen sind eigentlich gesellige Tiere
Pampashasen sind eigentlich, das muss man so sagen, auch wenn Schlitzohr es vielleicht nicht hören will, gesellige Genossen. In freier Wildbahn, in der südamerikanischen Gras- und Buschsteppe, leben sie in Kolonien zusammen. Mehrere Paare, bis zu 70 Tiere, bilden ein relativ komplexes soziales System. Männchen errichten untereinander eine Rangordnung, manche haben zwei Weibchen, denen sie im besten Fall ein Leben lang treu bleiben. Um ihren Platz im System zu behaupten und Macht zu demonstrieren, präsentieren die Herren ihr Gesäß, liefern sich Verfolgungsjagden und beißen einander in den Rumpf.
Auch bei Schlitzohr hat der eine oder andere Kampf Spuren hinterlassen. Seinen Namen trägt er, weil ein Riss sein rechtes Ohr durchzieht. Dazu eine längliche Narbe an der Schnauze, an den Schultern ein paar kahle Stellen. Ziemlich ramponiert sieht er aus. Muss ordentlich Stress gehabt haben, der Kerl. Aber wie heißt es in einem dieser kitschigen Kalendersprüche: „Narben auf dem Körper zeigen, dass man gelebt hat. Narben auf der Seele zeigen, dass man geliebt hat.“ Schlitzohr hat beides.
Die anderen sind alle gestorben
Sie kamen zu viert nach Berlin. Aus Braunschweig. Er war damals ein Jahr alt und sie alle in der gleichen Aufzucht geboren. Neun Jahre ist das her. Und auch wenn sie sich in der neuen Heimat immer wieder gekabbelt, gegenseitig gejagt und bekämpft haben. Sie waren Freunde, eine Familie. Gemeinsam sind sie im Galopp über die Wiese gesprungen, haben in der Luft Pirouetten gedreht, Erdnüsse und Möhren gefressen und sich in der Sommerhitze schattige Plätzchen gesucht, gerne weit weg vom Wasser, denn große Badefans waren sie nie.
Ein bisschen fühlte es sich an wie bei den Musketieren. Vier gewinnt. Gemeinsam stark. Aber jetzt ist das Vergangenheit. Manche waren zu alt, manche hat der Fuchs geholt. Sie sind weg, und Schlitzohr ist wieder allein. Mit seinen zehn Jahren längst Pampashasensenior. Der letzte Mohikaner. Bis die zwei Neuen kamen.
Vielleicht hatte er keine Lust, nochmal anzufangen, vielleicht waren sie einfach Zicken. Vielleicht steht er wirklich über den Dingen, vielleicht fühlt er sich ein bisschen einsam in seinen alten Jahren. Wer weiß das schon so genau?
Aber drüben sitzen ja noch die Wasserschweine. Manchmal, wenn ihm danach ist, geht er hin, obwohl er eigentlich nicht dazu gehört, und spielt mit ihnen. Am liebsten mit den Kleinen. Er ist dann sowas wie der alte Onkel. Zu Besuch. Und die Einsamkeit verschwindet.

© Illustration: Andree Volkmann
Lebenserwartung: 14 Jahre
Natürlicher Feind: Pampaskatze
Interessanter Nachbar: Wasserschwein
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