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Eine Hand mit einem Megafon und einem Drahtknäuel (Illustration).

© Getty Images/Francesco Carta fotografo/Bearbeitung: Tagesspiegel

Die unterschätzte Macht der Missverständnisse: Warum wir so oft falsch liegen

Unser Autor dachte, ein Mann wolle ihn provozieren – bis er dessen Perspektive kannte. Seitdem erforscht er, wie Missverständnisse entstehen, und muss feststellen: Sie sind überall.

Sebastian Leber
Eine Kolumne von Sebastian Leber

Stand:

Anfang des Jahres hatte ich eine Begegnung, die mein Leben veränderte. Im Sportstudio nervte mich wochenlang ein bulliger Typ, der nach jedem Hanteldurchgang nicht etwa pausierte, sondern in einem großen, kreisförmigen Bogen durchs halbe Studio stolzierte.

Wollte er sein Revier markieren? Oder nur mit seinen Muskeln angeben? Das penetrante Herumgelaufe erschien mir wie ein aufdringlicher, fast aggressiver Akt.

Mitte Januar sprach er mich in der Umkleide an, weil er sein Duschgel suchte. Wir plauderten nett, und irgendwann fragte ich nebenbei, was es denn eigentlich mit seinem seltsamen Ritual auf sich habe. Oh, sagte er. Das sei ihm bislang gar nicht aufgefallen. Er höre beim Sport immer Techno und sei dann ganz bei sich in Gedanken. „Ich hoffe, das stört dich nicht?”

„Ach Quark“, sagte ich, und nun, da ich seine Perspektive kannte, stimmte das auch. Ich hatte das Verhalten dieses Mannes völlig falsch eingeschätzt und damit auch seinen Charakter. Ein klassisches Missverständnis.

Seit diesem Tag interessiert mich, wie Missverständnisse entstehen und unser Leben beeinflussen, ohne dass wir es überhaupt merken. Es ist ein spannendes Forschungsfeld. Was ich bis jetzt gelernt habe: Missverständnisse durchziehen unseren Alltag. Meist liegt es daran, dass einer den Kontext dessen, worüber er sich gerade empört, nicht versteht.

Missverständnisse als Grundrauschen im Netz

Besonders oft passiert dies auf Social Media. Denn dort wird man täglich mit so vielen Eindrücken überflutet, dass sich der Kontext des jeweiligen Eindrucks kaum erfassen lässt. Angesichts der Fülle an Informationen bleibt keine Zeit zu reflektieren: Wer ist der Absender der jeweiligen Botschaft? Wie genau hat er sie gemeint? Was wollte er mit der gewählten Formulierung erreichen?

Inzwischen glaube ich tatsächlich, dass sich die meisten zwischenmenschlichen Konflikte zeitnah in Luft auflösen, sofern sich die Konfliktparteien ernsthaft um Verständigung bemühen und ein mögliches Missverständnis nicht von vorneherein ausschließen.

Sebastian Leber

Wüsste ich aber jeweils um den biografischen Hintergrund des Mannes, seine Bedürfnisse und Ängste, sein Wertesystem und seine Vorannahmen, ließen sich sicher viele Missverständnisse vermeiden. Doch Innehalten geht nicht auf Social Media, weil man ja direkt zum nächsten Posting weiterscrollen will und soll.

Inzwischen glaube ich tatsächlich, dass sich die meisten zwischenmenschlichen Konflikte zeitnah in Luft auflösen, sofern sich die Konfliktparteien ernsthaft um Verständigung bemühen und ein mögliches Missverständnis nicht von vornherein ausschließen.

In den sozialen Netzwerken kommt erschwerend hinzu, dass sich dort auch Leute herumtreiben, die Missverständnisse bewusst erzeugen. Zum Beispiel, um auf diesem Weg eine sachliche Diskussion in einen Kulturkampf abdriften zu lassen und damit eine wirkliche Debatte zu verunmöglichen. Sie machen das, weil sie eine bestimmte Agenda verfolgen, einen Sachverhalt „framen“ oder einfach nur trollen wollen. Manche tun es aus beruflichen Gründen.

Die Band ist schuld, oder?

Im Sommer habe ich mit einem guten Freund, nennen wir ihn Mark, gemeinsam das neue Arcade-Fire-Album gehört. Früher liebten wir diese Band, verloren sie dann jedoch aus den Augen. Nun saßen wir also da und hörten erstmals die uns bislang unbekannten Stücke.

Diese Songs hätten keine Tiefe, urteilte Mark. Die Lyrics packten ihn ebenso wenig.

Ich überlegte, ob ich ihn darauf aufmerksam machen sollte, dass wir uns beim Hören die ganze Zeit unterhalten, herumgealbert und Dart gespielt hatten. Dass wir also möglicherweise die Tiefe der Songs und die Lyrics gar nicht beurteilen konnten, zumal die Musik ohnehin nur aus dem Nebenzimmer herüber dudelte. Wir hatten uns an keiner Stelle auf Arcade Fire konzentriert.

Ich entschied mich, nichts zu sagen, und für Mark blieb klar: Diese Band ist schlecht gealtert!

Im Laufe des Jahres habe ich mir eine Menge Notizen gemacht. Immer, wenn ich glaubte, auf ein Missverständnis gestoßen zu sein und dessen Ursprung halbwegs verstanden zu haben.

Ich sammle Missverständnisse wie andere Leute Pokémons. Je mehr sich auftun, umso klarer wird mir: Missverständnisse sind kein persönliches Versagen, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Und genau das macht sie so spannend.

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