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Geschichte: Grausames Spiel

Juni 1978: In Buenos Aires wird Argentinien zum ersten Mal Fußball-Weltmeister. Auch in den Kerkern der Junta wird gejubelt, kurz ist der Terror der Diktatur vergessen. Zeitzeugen erinnern sich.

Den ganzen Sonntag hat über der argentinischen Hauptstadt eine Wolkendecke gehangen, die Temperaturen liegen deutlich unter den zehn Grad, die jetzt, im argentinischen Winter, normal wären. Am Abend des 25. Juni 1978 laufen die Fußballer in langärmligen Trikots ins Monumentalstadion von Buenos Aires ein, die Niederländer in orange, die Argentinier in weiß und hellblau. Beide Teams haben es mit ihrem begeisternden, offensiven Spiel ins Finale der 11. Fußballmeisterschaft geschafft.

Nach 90 Minuten steht es in einem ausgeglichenen Spiel eins zu eins durch Tore von Mario Kempes und Dick Nanninga. Gleich zu Beginn der Verlängerung machen die Argentinier vor heimischem Publikum mächtig Druck. In der 105. Minute fällt das 2:1, zehn Minuten später entscheidet Daniel Bertoni mit einem Treffer ins lange Eck das Spiel. Zum ersten Mal ist Argentinien Fußballweltmeister.

Ich sah das Spiel im Fernsehen, habe aber vergessen, wo und mit wem. Nur eine einzige Erinnerung ist mir an diesen 25. Juni 1978 geblieben: Das Spiel ist aus, und ich, 15 Jahre alt, mitten in der Pubertät, stehe auf der Straße meiner kleinen Heimatstadt San Pedro, 160 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Ein lärmender Autokorso bewegt sich in Richtung Zentrum. Über meinem Kopf flattern argentinische Fahnen, Plastiktrompeten dröhnen. Die Menschen singen, schreien, umarmen sich. Doch die Freude hat etwas Aggressives: „Wer nicht springt, ist Holländer“, skandiert die Menge und dann: „Despacito, despacito, despacito, les rompimos el culito.“ – „Langsam, langsam, langsam, reißen wir ihnen den Arsch auf.“

Kaum jemand denkt in diesem Moment des nationalen Taumels an das, was zur gleichen Zeit in Argentinien geschieht. Seit zwei Jahren regiert eine Militärjunta das Land, mit allen Mitteln verfolgt sie ihre Gegner.

Die Vernichtung der argentinischen Opposition folgt einem simplen Plan: Festnahmen ohne richterliche Anordnung, Abtransport in Geheimgefängnisse, Folter, Eliminierung. Doch die Militärjunta leugnet systematisch, dass sie mit dem Verschwinden von Studenten, Gewerkschaftern und linken Aktivisten etwas zu tun habe. Angst ist der Pfeiler ihrer Macht, die Menschen sprechen verunsichert von den „Verschwundenen“.

Einer ist der Architekt und Bildhauer Adolfo Pérez Esquivel, der 1980 wegen seines Engagements für die Menschenrechte den Friedensnobelpreis verliehen bekam. Ende März 1977 wird er von Bundespolizisten abgeholt, ohne dass die Festnahme irgendwo registriert wird. Familie, Freunde und Kollegen ahnen, was passiert ist, Genaues weiß niemand. Rund einen Monat nach seiner Verhaftung wird Pérez Esquivel von mehreren Militärs aus seiner Zelle geholt. Sie fahren mit ihm zu einem Flugplatz, und ketten ihn an einen Sitz in einer Propellermaschine. Stundenlang fliegen sie mit ihm über die gewaltige Mündung des Río de la Plata, ab und zu gerät die Küste Uruguays in Sicht.

Adolfo Pérez Esquivel geriet ins Visier der Militärjunta, weil er 1974 die Gesellschaft für Frieden und Gerechtigkeit (SERPAJ) gegründet hatte, ein christliches Netzwerk, das den Staatsterrorismus in verschiedenen Ländern Lateinamerikas kritisierte. Jetzt sitzt der 45-Jährige selbst in einem „Todesflug“ – eine der beliebtesten Methoden der Militärs und speziell der Marine, um Oppositionelle zu töten: Die mit Beruhigungsmitteln vollgepumpten Gefangenen werden in Richtung offenes Meer geflogen. Dann zieht man sie aus und stellt sie vor eine Tür im hinteren Maschinenteil. Einer nach dem anderen wird hinausgestoßen, aus 2000 Metern Höhe. Nach der Rückkehr trösten Geistliche die Militärs. Sie zitierten aus der Bibel, sprechen vom Unkraut, das man ausreißen müsse, damit der Weizen nicht verderbe.

Als er im Flugzeug sitzt, weiß Pérez Esquivel von den Todesflügen. Er hat Fotos von angeschwemmten Leichen gesehen. Doch offenbar haben die Militärs mit Pérez Esquivel etwas anderes vor. Die Maschine fliegt zu einem Militärstützpunkt, von wo aus er in eine neue Strafanstalt verlegt wird. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal glücklich darüber sein würde, dass man mich einsperrt.“

Pérez Esquivel ist heute 76 Jahre alt. Er trägt Jeans und hat sein ergrautes Haar wachsen lassen. Als damals feststeht, dass Pérez Esquivel in der Hand der Militärjunta ist, treffen Appelle für seine Freilassung von Menschenrechtsgruppen aus der ganzen Welt ein.

Doch die Militärs wollen einen ihrer prominentesten Gefangenen nicht laufen lassen. Zehn Tage vor der Fußball-WM schaffen sie ihn in eine Folterzelle: Er wird am Schlafen gehindert, mit eiskaltem Wasser abgespritzt und geschlagen. Nach einigen Tagen marschiert der Gefängnisdirektor mit einigen Aufsehern hinein, sie hauen die Hacken zusammen. Der Direktor befiehlt: „Arme hoch!“ Pérez Esquivel hat so viele Schläge bekommen, dass er sich kaum bewegen kann. Der Direktor fragt: „Was wird die Welt jetzt wohl machen, wo die WM beginnt? Wird man weiter um ihn heulen, wo wir ihn doch so gut behandeln.“ Die Aufseher lachen.

Die argentinische Fußballnationalmannschaft von 1978 leidet bis heute unter dem Stigma, den Titel unter der Diktatur gewonnen zu haben. Zwischen 1976 und 1983 wurden in Argentinien 30 000 Menschen umgebracht, Tausende flüchteten ins Exil, die Wirtschaft wurde verscherbelt und die Auslandsschulden des Landes stiegen von acht auf 45 Milliarden Dollar. Für die Organisation der WM war damals Konteradmiral Carlos Lacoste zuständig. Statt der veranschlagten 70 Millionen Dollar gab er 700 Millionen aus, wie Journalisten schätzen, ohne jemals Rechenschaft über den Verbleib des Geldes abzulegen.

So gut wie alle Spieler, die damals für Argentinien antraten, weigern sich heute noch, über die Diktatur zu sprechen. Der ehemalige Mittelfeldspieler Ricardo Villa hat keine Hemmungen: „Es war eine Epoche der Verbote und der Angst“, sagt er. „Aber ich wusste nicht, dass Menschen umgebracht wurden. Ich war nur ein Fußballer.“ Kam es ihm nicht komisch vor, dass das Team immer von bewaffneten Wachen umgeben war, weil die Diktatur den eigenen Spielern nicht traute? Und dass er 100 Meter vor dem Mannschaftslager aus dem Auto aussteigen musste, um sich kontrollieren zu lassen. „Wir sahen das mit Humor“, erinnert sich Villa. „Wir sagten den Soldaten: Wir haben doch nichts dabei.“

In Europa gab es Proteste gegen die Fußball-WM. In den Niederlanden und Frankreich demonstrierten Exil-Argentinier und Menschenrechtler und forderten einen Boykott der WM im „Land der Folter“. „Fußball macht frei“, provozierte eine deutsche Menschenrechtsorganisation. Und wenn das argentinische Team im Ausland spielte, hielten Leute auf den Flughäfen Schilder in die Höhe, auf denen von Verschwundenen die Rede war. Villa und seine Kameraden fragten die Journalisten, die sie begleiteten, was das zu bedeuten habe. Sie antworteten: „Sie wollen unsere WM madig machen.“ Das war für Villa das einzige Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. „In der Mannschaft redeten wir nicht darüber. Warum erwartet man von Fußballern mehr als von anderen?“

Ricardo Villa lebt in Roque Pérez, einem Dorf 100 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Er betreibt Viehzucht und hat einige Sojafelder. Mit 55 Jahren trägt er immer noch den Bart und das halblange Haar, dass er schon als Spieler hatte – damals eine Extravaganz, die sich nur wenige leisteten. Mit einem Ché-Guevara-Look herumzulaufen barg ein gewisses Risiko. Doch Villas Aussehen spiegelte auch den ungestümen Geist des argentinischen Fußballs. Nationaltrainer César Luis Menotti wollte, dass die Auswahl immer offensiv und schön spielt. Villa sagt: „Wir waren keine Fußball-Arbeiter. Wir sollten fintenreich sein und dem Gegner Streiche spielen.“

Menotti sympathisierte damals sogar mit den Kommunisten und versteckte in seinem Haus politisch Verfolgte. Auf die WM angesprochen reagierte er mit Sarkasmus: Es käme ihm so vor, als glaubten die Argentinier, sie wären zu der Zeit gar nicht da gewesen, als hätten sie nicht wie verrückt gefeiert. „Haben wir diese ganze WM erfunden, die Spieler, unsere Gegner und ich? Hat es gar keine Journalisten gegeben, keine Zeitungen, keine Politiker?“

„Die Kameraden, die man in die ,Capucha’ geschmissen hatte, konnten den Torjubel während der Spiele hören“, sagt Graciela Daleo. Die „Capucha“ war eine Abteilung der Marineschule Esma, wo man den Häftlingen stets die Augen verband und ihnen Fußfesseln anlegte. Das heute berüchtigtste aller damaligen Gefängnisse befand sich weniger als 1000 Meter vom Monumental Stadion entfernt. Die Mehrzahl der 5000 Häftlinge, die dort waren, sind bis heute „verschwunden“. Graciela Daleo hatte Glück. Sie wurde nach anderthalb Jahren freigelassen. Heute lebt die 60-Jährige in einer kleinen, mit Büchern zugestellten Wohnung in Buenos Aires.

„Es gab Gefangene, die von den Militärs ausgewählt worden waren, um den westlich-christlichen Werten wieder zugeführt zu werden“, sagt sie. „Ich gehörte dazu.“ Das bedeutete, dass sie einige WM-Spiele im Fernsehen schauen durften. Die Wachmänner setzten sich damals zu den Gefangenen. Gemeinsam drückten sie der argentinischen Elf die Daumen, kommentierten die Spielzüge, bejubelten die Tore. „Es waren Momente des Glücks", sagt Daleo. „Dort drinnen starben jeden Tag Kameraden. Aber wir haben auch gelacht, Freundschaften geschlossen und uns verliebt. Sonst hätten wir nicht überleben können.“

Während der WM verstärken die Sicherheitskräfte die Patrouillen auf den Straßen von Buenos Aires. Sie nehmen Gefangene mit, die sie als Lockvögel laufen lassen, bis alte Kameraden sie begrüßen und sich so verraten. Andere Gefangene werden verlegt. Daleo wollen die Militärs als Lockvogel an einem Grenzübergang zu Brasilien benutzen. Als sie mit ihren Wachen ins Flugzeug steigt, erkennt sie die Stewardess, die als Studentin auch politisch aktiv gewesen war. „Ich vermied jede Geste, die unsere Bekanntschaft hätte verraten können“, erzählt Daleo. Beide Frauen zittern, als die Stewardess eine Cola serviert. Beim Aussteigen gelingt es ihr, Daleo heimlich eine Nachricht zuzustecken: „Meine Liebe, ich verstehe nichts, aber rechne mit mir.“ Daleo spült den Zettel später im Klo herunter.

Pérez Esquivel erinert sich, dass die Wachen in seinem Gefängnis die Spiele der Argentinier im Radio hörten. Sie drehten die Lautsprecher auf, und die Häftlinge konnten mithören. Wenn Argentinien ein Tor schoss, schrie das ganze Gefängnis: Goooool Argentino! „Das war das einzige, das uns einte.“

Drei Tage vor dem Finale wird Adolfo Pérez Esquivel verlegt. Zum Abschied zerreißt eine Wache vor seinen Augen ein Familienfoto. Aber Pérez Esquivel erschrickt mehr über den Mann in Uniform, der den Gang herunter kommt: Raúl Guglielminetti, Kriegsname: Mayor Gustavino. Es heißt, niemand, den Gustavino mitnehme, sei je zurückgekehrt.

Der Mayor bringt den gefesselten Pérez Esquivel zu einem Wagen und setzt ihn auf den Beifahrersitz. „Sie sind sehr bekannt außerhalb unseres Landes“, sagt er. „Es gibt viele Nachfragen. Deshalb will die Regierung Sie als Geste des guten Willens entlassen. Aber wir werden Sie beobachten!“ An einer Tankstelle halten sie. Als der Mayor aussteigt, lässt er seine Waffe auf dem Boden des Wagens liegen. „Ich dachte, jetzt bringen sie mich um“, erinnert sich Pérez Esquivel. Er hatte von Gefangenen gehört, denen man die Flucht ermöglicht hatte, um sie dann zu erschießen. Pérez Esquivel legt seine Hände ganz ruhig aufs Armaturenbrett. Als der Mayor zurückkommt, sagte er: „Sie haben ihr Spielzeug vergessen.“ – „Wie vergesslich von mir“, antwortet der Mayor.

Nach dem Finale weigern sich die Niederländer, ihre Medaillen entgegenzunehmen. Die Generäle der Junta, Jorge Videla, Emilio Massera und Orlando Agosti, sind gemeinsam mit Fifa-Präsident Joao Havelange von der Ehrentribüne hinab auf die Tartanbahn gestiegen. Videla überreicht dem argentinischen Mannschaftskapitän Daniel Passarella die Trophäe und sagt: „Ihr habt uns leiden lassen, Kapitän. Aber jetzt sind wir Champions.“ Dann übernimmt erstmals seit dem Militärputsch wieder das Volk die Straßen.

„Die Leute waren glücklich. Die politische Situation war ihnen in dem Moment egal“, sagt Villa. Er lebte 20 Blocks vom Stadion entfernt und wollte vor dem Siegesbankett noch nach Hause. Als die Menschen ihn auf dem Heimweg erkennen, schreien sie „Gracias!“ – „Danke“.

In der Marineschule Esma lässt ein Wachmann nach dem Schlusspfiff verschiedene Gefangene zu sich bringen. Sie sollen sich auf eine Spazierfahrt vorbereiten. Man will sie demütigen, indem man ihnen zeigt, wie die Argentinier sich freuen. Sie setzen Graciela Daleo in einen Peugeot. „Als wir zur Avenida Cabildo kamen, sah ich die Menge, die sprang und sang“, sagt sie. Weil sie es unerträglich findet, in diesem Moment eng gedrückt an ihre Peiniger zu sitzen, bittet Daleo darum, das Schiebedach zu öffnen. Sie streckt den Kopf heraus und sieht die Abertausenden, die feiern. Ihr selbst laufen die Tränen über das Gesicht.

Sie weiß noch genau, was sie damals vor 30 Jahren gedacht hat: „Wenn ich jetzt schreie, ,ich bin eine Verschwundene’, niemanden würde das interessieren.“

Übersetzung aus dem Spanischen und Mitarbeit von Philipp Lichterbeck.

Francisco Olaso

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