
© Illustration: Tagesspiegel/Suse Grützmacher
Vorlesegeschichte: Kein Weihnachten ohne Eddi
Dein Atem roch nach Tier, das mag fast niemand. Aber ich. Meine Augen kennen nur das, wenn sie aufgehen: Fell. Eine Vorlesegeschichte
Stand:
Als ich geboren wurde, warst du schon da. Noch klein, aber da. Und alle hatten Angst. Was du machen würdest, wenn du mich siehst. Es gab einen Plan: Wenn du nur einmal schief geguckt hättest, wärst du weg gewesen. Aber du hast nicht schief geguckt. Du bist an mein Bett gekommen, das hat Papa mir erzählt, ich war ja ein Minibaby, du bist an mein Bett gekommen, Mama und Papa standen bereit, Mama musste beruhigend auf Papa einreden, damit er dich nicht anschreit, bevor du überhaupt schief gucken konntest. Ich habe geschlafen, weil Minibabys das meistens machen, und du hast deine Nase einmal über mir kreisen lassen und dann hast du deine Augen geschlossen, als würdest du dir was merken. Ganz kurz nur. Und dann hast du dich hingelegt, direkt da, wo du warst, egal, dass es auf Mamas Füßen war, du hast dich hingelegt und bist da geblieben.
Kinder hast du dann nicht mehr gehasst, sie haben dich einfach nicht mehr interessiert. Du hattest ja jetzt mich. Gehasst hast du nur, wenn jemand zu nah an mein Bett kam. Der Heizungsableser zum Beispiel. Onkel Rolf. Mamas Mama. Niemand durfte näher als eineinhalb Meter heran, als wenn du ein Maßband hättest, hat Papa gesagt. Jeden, der diese Grenze übertrat, selbst aus Versehen, hast du mit gefletschten Zähnen verjagt. Bis hierhin und nicht weiter, Freundchen. Jedenfalls, deswegen hat mich bis zu meinem ersten Geburtstag niemand berührt außer Mama, Papa und dir.
Mein Leben war immer mit dir. Deswegen weiß ich nicht, wie es ohne dich geht. Alles muss ich neu lernen, und lernen geht am besten, wenn man neugierig ist, sagt Frau Sommerfeld, meine Lehrerin, aber ich bin nicht neugierig auf ohne dich leben. Kein bisschen.
Meine Augen kennen nur das, wenn sie aufgehen: Fell
Als ich angefangen habe zu laufen, hab ich auch andere Leute berührt. Und du hast dein Maßband auf 30 Zentimeter gestellt. So nah warst du bei mir. Immer. Wolltest gar nichts, nur bei mir sein. Auf mich aufpassen, das schon, aber auch einfach gleichzeitig mit mir leben. Ich glaube, seitdem ich auf der Welt war, hast du nie mehr geschlafen. Gut, ich kann nicht haargenau sagen, was in der Nacht gewesen ist oder wenn ich in der Kita war oder jetzt Schule, Hort und so, aber ich habe dich nie, nie, niemals schlafen sehen.

© Illustration: Tagesspiegel/Suse Grützmacher
Wenn ich wach wurde, warst du es schon. Hast mir direkt in die Nasenlöcher geatmet. Dein Atem roch nach Tier, das mag fast niemand. Aber ich. Meine Augen kennen nur das, wenn sie aufgehen: Fell. Schwarzbraungräulich, im Sommer braunrötlich, im Winter schwärzlich, in letzter Zeit grauer. Wie ein Baum die Farbe der Blätter hast du die Fellfarbe gewechselt, nur langsamer. Und ausgefallen ist es auch, in puscheligen Kugeln, die durch die Wohnung rollten wie diese Büsche durch die Prärie. Mamas Mama hat gefragt: „Soll ich dir daraus einen Pulli stricken?“ und ich hab ja gesagt. Aber zu Weihnachten gab es dann immer nur eine Socke und zu Ostern die zweite, „Mehr schaff ich nicht mit den Handgelenken“, hat sie gesagt. Aber ich wusste auch so, dass es ein Scherz war, niemand trägt Pullis aus Hundewolle, keine Ahnung warum.
Jemand hat gesagt, Hunde sehen keine Farben, kann ja sein, aber du schon
Mama und Papa haben mich abwechselnd in die Kita gebracht, aber das hätten sie auch dich machen lassen können. Du kanntest den Weg und die Regeln auf der Straße. Jemand hat gesagt, Hunde sehen keine Farben, kann ja sein, aber du schon. Nicht weil du bei rot stehengeblieben und bei grün gegangen bist, das ist kein Beweis, weil man sagen kann, „Das hat er daran erkannt, wo es gerade leuchtet“, so wie Onkel Rolf immer. Kann ja sein, aber es gibt einen Beweis, dass du Farben sehen konntest, auch wenn Hunde das vielleicht normalerweise nicht können, aber wer weiß schon, was andere Augen sehen? Ich glaube, bei dir war sehen eine Mischung aus dem, was Augen machen und dem, was eine Nase macht. Sriechen. Risehen. Wo Onkel Rolf denkt, „Hm, riecht irgendwie verbrannt“, da weißt du, dass jemand 203 Meter südwestlich ein Lagerfeuer mit hauptsächlich Weidenzweigen gemacht, es vor zweieinhalb Stunden mit Grillanzündern aus gepresstem Wasweißichspänen angezündet hat und es jetzt nur noch ein Haufen Asche ist, dessen Rauch vom Wind verwirbelt wird.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Du kannst am längsten spielen. Jeder braucht mal eine Pause, aber nicht du. Und ich auch nicht. Deswegen haben wir so gut zusammengepasst. Einer von uns hat immer ein Spiel vorgeschlagen. Du meistens was mit Stock oder Gummiball, ich meistens mit Zügen. Vorletztes Weihnachten habe ich eine Riesenkiste Gleise, Züge, Bahnhöfe, Sitzbänke, Brücken, Bäume, Leute, Häuser von Mamas Papa geschenkt bekommen. Mit denen hat Mamas Papa selber gespielt, als er klein war und dann auch wieder an Weihnachten und seitdem immer, wenn er bei uns ist. Ehrlich gesagt, ich finde die Züge und Gleise und Brücken und das alles nur so mittel, aber du, du findest die ganze kleine Miniwelt, in der die Züge ihre Runden fahren, so gut, dass ich sie niemals abbaue.
Je mehr zum Auspacken, desto mehr zum Zugucken, wie du auspackst
Wenn ich den Trafo einschalte und du das Klicken hörst, machst du so einen kleinen Jauler vor Freude und kommst angerannt. Egal, wo du gerade warst, weil die 30-Zentimeter-Regel gilt nicht mehr, seit ich rennen und Stöcke werfen kann, du springst auf und rennst zu mir und zu der Miniwelt. Und dann stehst du da, starrst auf den Zug, Runde um Runde um Runde und deine Zunge hängt raus, rosa und feucht, und du lächelst vor Glück, auch wenn Leute sagen, dass Hunde nicht lächeln können. Und ich guck nur dich an und dein Glück, und dann denke ich, Los!, und du springst in die Miniwelt, fällst Bäume, zerstörst Dörfer, köpfst Menschen (aus Versehen) und schnappst dir den Zug mit weichem Maul, mähst noch einen Bahnhof nieder, während du zu mir ans andere Ende der Welt galoppierst und lässt den Zug stolz in meine Hände fallen. Dann reibe ich kurz meine Stirn an deiner und stelle ihn wieder aufs Gleis.

© Illustration: Tagesspiegel/Suse Grützmacher
Weihnachten war mein Lieblingstag. Besser noch als Geburtstag, weil mehr Geschenke. Klar, jeder mag Geschenke, aber in Wirklichkeit ist es doch so: Manchmal ist in den Paketen etwas, worüber man sich gar nicht so richtig freut. Eine einzelne Socke zum Beispiel. Weiß man ja eh schon, weil jedes Jahr das gleiche, und außerdem, was soll man mit einer einzelnen Socke? Aber egal: Je mehr zum Auspacken, desto mehr zum Zugucken, wie du auspackst, desto mehr zum Lachen, wenn Geschenkpapier an deiner Zunge klebt und du versuchst es auszuspucken – aber das können Hunde wirklich nicht, nicht mal du: spucken. Desto mehr kleine Jauler, wenn man dir das nächste Geschenk reicht, desto mehr Gefühle im Herzen, weil du dich freust und mit den Pfoten Pakete hältst wie ein Eichhörnchen Nüsse und wie du die, die nicht aufgehen wollen, mit den Vorderbeinen durch die Hinterbeine über den Boden schießt, als würde das was helfen.
Tiere sind für Tiere wie Feuerwerk für Menschen
Ich weiß nicht, wann genau, aber ich konnte schon denken, da haben wir uns versprochen, dass wir für immer zusammen Weihnachten feiern. Sonst kann von uns aus alles immer anders sein, mal bei Mamas Mama, mal bei Mamas Papa, mal bei Onkel Rolf, auch wenn wir den beide nicht mögen, Hauptsache zusammen.

© Illustration: Tagesspiegel/Suse Grützmacher
Ach ja, der Beweis. Einmal bist du verloren gegangen. Normalerweise habe ich immer gewusst, wenn was Unwiderstehliches in der Nähe war. Ich hab angehalten und gewartet, manchmal wusste ich gar nicht warum, aber dann habe ich zu dir geguckt und gesehen, wie du ein Brötchen unter einem Blätterberg gefunden oder eine müde Maus aufgespürt hast. Wie du einen Stock aus der Hecke ziehen oder einem Hundekollegen am Po schnuppern musstest. Aber an dem Tag nicht. Vielleicht hatte ich einen doofen Tag in der Schule oder einen guten, jedenfalls habe ich erst zu Hause gemerkt, dass du nicht mit in die U-Bahn gestiegen bist. Also erst habe ich gemerkt, dass du nicht da bist, dann habe ich gemerkt, dass ich dich nach dem Weberplatz gar nicht mehr gesehen habe, und dann ist mir eingefallen, dass es da eine Zoohandlung gibt und es völlig glasklar ist, dass du da immer anhalten musst. Tiere sind für Tiere wie Feuerwerk für Menschen. Wenn Tiere Tiere sehen, müssen sie stehenbleiben und gucken, geht nicht anders. Und weil sich Tiere in Zoohandlungen nicht auflösen wie Feuerwerk am Himmel, musstest du jedes Mal riechgucken, bis ich dachte – und manchmal sogar sagen musste –, Komm, Eddi, wir gehen. Nur an diesem Tag hatte ich nichts davon gemacht.
Hunde, die allein U-Bahn fahren, klar gibt’s die nicht
Die Sache ist die: Von der Zoohandlung am Weberplatz zu uns nach Hause muss man die U3 bis Kranstraße und dann die U7 bis Bremer Damm nehmen. Wenn man Kranstraße aussteigt, muss man nur ans Gleis gegenüber, aber dann eben nicht in die U4, die fährt nicht über Bremer Damm, sondern über Herrndorfplatz. Die U7 ist rot. Die U4 ist lila.
Klar bin ich zurück zur Zoohandlung, auch wenn ich wusste, dass du da nicht mehr sein würdest. Kein Feuerwerk der Welt kann dich eine Dreiviertelstunde von mir ablenken. Klar hat mein Herz dann in meiner Brust gedonnert, klar bin ich gerannt, den ganzen Weg zum U-Bahnhof und die Treppen runter, das Gleis entlang, die Treppen hoch, obwohl es keinen Sinn gemacht hat. Klar, ich wusste nicht mehr, was Sinn macht, deswegen habe ich an vielen Menschen gerüttelt und sie gefragt, ob sie einen rötlichbraunen (es war Sommer), ungefähr so hohen (bis zu meinem Oberschenkel) Hund mit langer Schnauze und Schlappohren gesehen haben. Klar hat keiner was gesehen. Klar hab ich den Leuten in dem Laden gesagt, was passiert ist, bin zurück zur U-Bahn, du warst nicht da, dann bis Kranstraße, du warst nicht da, Hunde, die allein U-Bahn fahren, klar gibt’s die nicht. Ich habe einen Zettel geschrieben, ein Foto von uns rausgesucht, es zehntausendmal kopiert und an Bäume gehängt, alles in der U7 bis Bremer Damm, alles in meinem Kopf.
Du hast dich neben mich gestellt, kein Zentimeter zwischen uns
Bin ausgestiegen, klar war mein Blick verschwommen als ich um die Ecke gebogen bin, klar habe ich mich gefragt, ob es sie noch gibt, diese weißen Laster, aus denen Männer mit riesigen Käschern steigen, deren Netze sie über streunende Hunde werfen und sie dann in den Laster und irgendwohin bringen, wo klitzekleine Käfige sind. Und klar. Als ich meine Nase ein kleines Stück hob, nur damit ich nicht gegen die Leute laufe, die zur U7 wollen, habe ich das einzige Mal in meinem Leben einen kleinen Jauler gemacht, so einen, wie du ihn immer gemacht hast, wenn du dich so sehr gefreut hast, dass es sich anfühlte, als würde ich mich selbst freuen. Weil du da saßt. Vor unserer Tür. Und auf mich gewartet hast.

© Illustration: Tagesspiegel/Suse Grützmacher
Am Wochenende habe ich bei Camilla übernachtet. Sie hatte Geburtstag, also bin ich hingegangen, sie ist meine zweitbeste Freundin. Als ich Sonntag ins Wohnzimmer gekommen bin, bist du von deiner Decke aufgestanden und auf dünnen Beinen zu mir gekommen. Du hast dich neben mich gestellt, kein Zentimeter zwischen uns, hast dich an mich gelehnt, und Papa hat leise zu Mama gesagt: „Oh, guck, das erste Mal, dass er aufsteht dieses Wochenende.“ Und da standest du, nur noch so hoch wie mein Knie und so zart, als würdest du verschwinden, als wärst du schon fast gar nicht mehr da. Aber gehen, ohne dich zu verabschieden, wolltest du auch nicht.
Jedenfalls, deswegen feiere ich Weihnachten nicht mehr. Geht ja gar nicht ohne dich. Versprochen ist versprochen.
Die Autorin wurde für ihren Roman „Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte“ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 ausgezeichnet. Hier geht es zu einer weiteren Vorlesegeschichte von Dita Zipfel – und hier zu einem ungewöhnlichen Porträt eines jungen Start-up-Millionärs, das sie für den Tagesspiegel mitverfasst hat.
Dita Zipfel
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: