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Kinderbücher: Warum Pippi Langstrumpf relevanter denn je ist
Ihr frecher Charme begeistert Leserinnen und Leser seit 80 Jahren. Die Werte von Pippi Langstrumpf, der bekanntesten Figur der schwedischen Autorin Astrid Lindgren, sind heute besonders aktuell.
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Sie ist neun Jahre alt, lebt ohne Eltern - dafür mit einem Pferd und einem Affen - in einem bunt angestrichenen Haus. Ihre Schuhe sind ihr viel zu groß, sie lügt, dass sich die Balken biegen, und wenn es sein muss, prügelt sie sich auch mal. Sie lebt von einem Vermögen dubioser Herkunft und in die Schule geht sie nicht, denn von „Plutimikation“ und anderen Dingen, die man dort lernen soll, hält sie nicht viel.
Die Rede ist natürlich von Pippi Langstrumpf. Als ihre schwedische Erfinderin Astrid Lindgren das Manuskript mit der Geschichte des frechen, starken, freiheitsliebenden Mädchens an einen Verlag schickte, schloss sie in ihrem Anschreiben mit einem deutlich lesbaren Augenzwinkern die Bitte ein, nicht das Jugendamt zu alarmieren. Das tat der Verlag nicht und so erschien vor 80 Jahren in Schweden die erste Ausgabe des Buches „Pippi Langstrumpf“ (im schwedischen Original: „Pippi Långstrump“).
Kritiker warnten vor einem Zusammenbruch der Moral
Das Kinderbuch war sofort ein Riesenerfolg, sagt die Literaturprofessorin Elina Druker von der Universität Stockholm - auch weil es anders war. „Die Hauptfigur durchbricht auf schockierende Weise gängige Normen; sie wird als eine Art kindlicher Superheld dargestellt, doch zugleich übt das Buch mit viel Humor Kritik an zeitgenössischen Vorstellungen von Kindheit, Identität und der Möglichkeit, sein Leben mitzugestalten“, sagt Druker zur Deutschen Presse-Agentur.
Und genau das sorgte auch für Kontroversen. „Einige Lehrkräfte und Kritikerinnen sorgten sich über Pippis rebellische Art und die fehlende Aufsicht; manche warnten sogar vor einem Zusammenbruch der öffentlichen Moral“, erklärt Druker.
In Deutschland erschien das erste „Pippi Langstrumpf“-Buch im Jahr 1949. Es folgten viele weitere Abenteuer des Mädchens. Mittlerweile sind die Bücher in 80 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt worden.
Lindgren: „Ich bin sehr kindlich“
„Pippi Langstrumpf“ legte den Grundstein für die lange Karriere von Astrid Lindgren, die später weitere Publikumserfolge wie „Michel aus Lönneberga“, „Wir Kinder aus Bullerbü“ und „Ronja Räubertochter“ schreiben sollte. Ein Merkmal, das so viele ihrer Kinderbücher kennzeichnet, ist bei „Pippi Langstrumpf“ besonders deutlich: Es ist aus der Perspektive des Kindes geschrieben.
Natürlich wird bei ihr das Putzen zum Spiel und es macht überhaupt nichts, wenn beim Schlittschuhlaufen mit Scheuerbürsten an den Füßen die ein oder andere Lampe zu Bruch geht.
In einem Interview sagte Lindgren einmal: „Ich bin sehr kindlich. In mir lebt wahrscheinlich ein kleines Kind. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie es war, ein Kind zu sein, wie ein Kind fühlt und reagiert.“
Absurder Humor, aber auch Melancholie
Neben teils recht absurdem Humor schwingt aber auch schon bei Pippi die vielen von Lindgrens späteren Büchern eigene Melancholie mit. Zum Beispiel, wenn Pippi erzählt, dass sie sich immer selbst in den Schlaf singt, weil sie ja keine Eltern hat, die das für sie tun würden. Wenn Pippi erzählt, wie sie zu ihrer Mutter, die „ein Engel“ ist, regelmäßig in den Himmel ruft: „Hab keine Angst! Ich komme immer zurecht!“, könnte man sich vorstellen, dass Lindgren, selbst Mutter zweier Kinder, das auch als Trost für sich selbst geschrieben hat.
Als 18-Jährige wurde sie außerehelich schwanger. Sie brachte ihren Sohn heimlich in Kopenhagen zur Welt. Er wuchs die ersten Jahre seines Lebens bei einer Pflegefamilie und bei Lindgrens Eltern auf. Erst als sie später heiratete, konnte sie ihn zu sich holen. Die Tochter, die sie mit ihrem Ehemann bekam, wuchs auf, während der Zweite Weltkrieg wütete. Zwar war die Familie im neutralen Schweden relativ sicher, aber Lindgren verfolgte das Kriegsgeschehen intensiv und machte sich große Sorgen - um ihr Land, die Welt und um ihre Familie.
„Pippi Langstrumpf“ begann als Gutenachtgeschichte
In dieser beklemmenden Zeit begann auch die Geschichte von „Pippi Langstrumpf“. Als Lindgrens Tochter Karin, damals sieben Jahre alt, im Jahr 1941 mit einer Lungenentzündung im Bett lag, bat sie ihre Mutter wie so oft, ihr eine Geschichte zu erzählen. „Erzähl von Pippi Langstrumpf“, sagte das Mädchen und erfand in dem Moment den Namen der Figur, die Kinder auf der ganzen Welt auch mehr als 80 Jahre später noch kennen und lieben sollten.
Astrid Lindgren dachte sich an dem Abend und an vielen weiteren Abenden in den Wochen, Monaten und Jahren danach Geschichten rund um das starke rothaarige Mädchen aus. Denn Karin wollte von nun an nur noch Pippi-Geschichten hören. „Das war ein verrückter Name, also musste das Mädchen auch etwas verrückt sein“, sagte die Autorin einmal.
Als Astrid Lindgren Anfang des Jahres 1944 auf einem eisglatten Stockholmer Gehweg ausrutschte und sich den Knöchel verstauchte, war sie es, die das Bett hüten musste. Zum Zeitvertreib begann Lindgren, die Geschichten über Pippi aufzuschreiben. Sie wollte sie ihrer Tochter Karin zum zehnten Geburtstag schenken.
Im Jahr darauf schickte Lindgren das Manuskript von „Pippi Langstrumpf“ im Rahmen eines Preisausschreibens an einen kleinen Stockholmer Verlag - und landete damit auf dem ersten Platz. Kurz nach Kriegsende erschien „Pippi Langstrumpf“ dann in Buchform.
Pippi besiegt den „starken Adolf“
Trägt Lindgrens lustiges Kinderbuch also Spuren vom Krieg? „Obwohl ihre Kinderbücher nie offen politisch sind, spielen Widerstand sowie die Themen Freundlichkeit, Macht und Kinderrechte eine wichtige Rolle“, sagt Literaturprofessorin Druker. „Diese Botschaften finden sich in all ihren Werken, treten jedoch vielleicht am deutlichsten und direktesten in der Figur der Pippi Langstrumpf zutage.“
Es ist sicher kein Zufall, dass der gemeine Zirkusdirektor in der schwedischen Ausgabe einen deutschen Akzent hat - und dass Pippi in ebendiesem Zirkus den „stärksten Mann der Welt“ mit dem Namen „starker Adolf“ besiegt. In typischer Pippi-Manier tut sie das nicht aus Kampfeslust, sondern um dem Zirkusdirektor eine Lektion zu erteilen. Bevor sie in die Manege steigt, sagt sie zu ihren Freunden Tommy und Annika: „Aber ich finde es schade, ihn zu verhauen, er sieht so nett aus.“
Laut Elina Druker ist eine der Botschaften, die das Buch vermittelt, dass Stärke und Macht Hand in Hand gehen sollten mit Empathie und Freundlichkeit. „Pippi ist das stärkste Mädchen der Welt, aber sie ist auch rebellisch, gütig und großzügig“, meint Druker. Pippi missbraucht ihre Stärke und ihren Reichtum nicht; ganz im Gegenteil setzt sie sie oft dafür ein, den Schwächsten zu helfen. Genau diese Werte machen „Pippi Langstrumpf“ zu einem Kinderbuch, das auch - oder gerade - in heutigen Zeiten äußerst relevant bleibt.
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