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Detective Lisa Armstrong (Morven Christie) verheimlicht nicht nur ihrem Kollegen Med Kharim (Taheen Modak, Mitte) eine kompromittiernde Affäre.

© ZDF und Ben Blackall

ZDFneo-Krimi: Alles außer gewöhnlich

Ein einziges, schwer entwirrbares Dilemma: In Großbritannien ist „The Bay“ ein Hit. Bei ZDFneo läuft der Sechsteiler am Stück.

Um in der selbstoptimierten Leistungsgesellschaft klarzukommen, ist ein Verhaltensmuster stets hilfreich: Impulskontrolle. Das gilt besonders für Ordnungshüter. Detective Sergeant Lisa Armstrong hätte es sich also besser noch mal durch den alkoholisierten Kopf gehen lassen, ob ihr lustiger Mädelsabend echt mit anonymem Sex im Hinterhof einer Karaoke-Bar enden sollte, aber gut: hat ja auch Spaß gemacht, bereitet der Polizistin nun jedoch nichts als Probleme.

Tags drauf nämlich muss die polizeiliche Opferberaterin einer englischen Küstenstadt Familie Meredith beruhigen, deren Zwillinge nachts nicht heimgekehrt sind – und siehe da, der Schwiegervater ist ausgerechnet Lisas One-Night-Stand.

Doch nicht nur das: als Dylan – eines der Kinder – kurz darauf tot am Strand gefunden wird, böte der Quickie dem Tatverdächtigen ein Alibi, von dem die ermittelnde Beamtin allerdings ebenso wenig reden darf wie der treulose Ehemann. Was für ein Zwiespalt.

Und beileibe nicht der einzige. Denn die britische Krimi-Serie „The Bay“ ist ein einziges, schwer entwirrbares Dilemma. „Komplikation“ lautet quasi der Untertitel des Sechsteilers, den ZDFneo praktischerweise am Stück zeigt („The Bay“, ZDFneo, Freitag, 22 Uhr).

Und kompliziert wird die Jagd nach Dylans Schwester nicht nur, weil die Kommissarin dem Verdächtigen so nah kam, dass sie sogar das Überwachungsvideo vom gemeinsam Abend löscht; der Fall stürzt den halben Ort ins emotionale, berufliche, familiäre Chaos. Wenn Kinder in Gefahr sind, dreht eben auch ein heruntergekommenes Küstenidyll wie Morecambe durch.

Am Wohlergehen ihrer Nachkommen versichern sich ansonsten selbstsüchtige Menschen schließlich gern ihrer Humanität; das ist in Großbritannien nicht anders als hierzulande. Dortzulande allerdings unterscheidet sich doch einiges von Crime Made in Germany – egal, ob junge oder alte Opfer.

Vielleicht liegt das am Brexit

Während die Kommissare von Hamburg bis München zum Beispiel notorisch in der Upperclass ermitteln, tun es jene zwischen Ärmelkanal und Nordsee gern drei Schichten tiefer. Dort also, wo billiges Nachmittagsprogramm prekäre Familien in abgewetzten Sofas beschallt, auf denen vierfache Mütter trotz aller Enge abermals schwanger sind.

In Deutschland trifft man Proleten wie Jess (Chanel Cresswell) und Sean (Jonas Armstrong) jenseits öffentlich-rechtlicher Sozialdramen halt selten, in England ist dieses Milieu Standard, der Außergewöhnliches wie die baugleiche ITV-Serie „Broadchurch“ hervorbringt.

Morvin Christie als katewinsletartig Schöne, irgendwie traurige Lisa ist dabei ebenso inseltypisch wie ihr Kollege Med (Taheen Modak), für dessen Unerfahrenheit keinerlei Verständnis bei ihr aufkommen mag. Und auch sonst wir hier in einer Robustheit kommuniziert, die aus hiesiger Produktion selbstreferenziell klänge; aus englischer wirkt sie selbst dann authentisch, wenn sich alle dauernd anschnauzen.

Vielleicht liegt das am Brexit, der auf Daragh Carvilles Drehbuch lastet wie kantiger Schlamm. Vielleicht liegt es auch an Lee Haven Jones, dessen Inszenierung sich dennoch spielerisch, statt verkrampft durch die Krusten einer tief gespaltenen Zivilgesellschaft wühlt. Vielleicht will man als Soko-geschädigter Genre-Fan Krimis aus dem Königreich aber auch einfach mehr mögen als eingeborene.

Ganz gewiss jedoch sorgt das zurückhaltende Soundengineering gepaart mit der ruhigen Erzählweise dafür, dass die viereinhalbstündige Täterjagd nie so selbstgefällig ist wie zuletzt etwa „Die verlorene Tochter“ des ZDF. So lautet das Fazit: ein konventioneller Krimi, atmosphärisch dicht erzählt und damit durchaus sehenswert.

Jan Freitag

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