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Dunkle Parallelwelt.

© Arte

Arte-Doku „Liken.Hassen.Töten“: Wie ticken Amok laufende junge Männer?

Eine Arte-Dokumentation lotet die Verbindung zwischen psychisch gestörten jungen Männern und der rechtsextremen Szene aus.

„Eigentlich wollte ich mich umbringen“, sagt Paul. Der 15-Jährige wurde an der Schule übel schikaniert. Er sah keinen Ausweg mehr. Doch dann habe er gedacht, er könne doch all diejenigen, die ihn gemobbt haben, nicht einfach so gehen lassen. „OK. Dann bringe ich diese Leute einfach noch um“.

Zu diesem Massaker kam es nicht, glücklicherweise. Das Chatforum, in dem Paul seine Mordphantasien mit Gleichgesinnten teilte, wurde gemeldet. Die Polizei nahm den mutmaßliche Amokläufer fest und lieferte ihn in eine Psychiatrie ein. Sechs Jahre später sitzt Paul nun vor der Kamera von Luca Zug und Alexander Spöri.

Die beiden Autoren, selbst erst 20, wollen ergründen, was Gleichaltrige dazu bringt, Amok zu laufen. Paul ist ihr Kronzeuge. Den Kontakt zu ihm konnten die beiden herstellen, weil sie seine Mobilfunk-Nummer in den umfangreichen Polizeiakten zum Fall David Sonboly fanden. („Liken.Hassen.Töten“, Arte Mediathek)

Der zur Tatzeit 18-jährige Deutsch-Iraner hatte am 22. Juli 2016 in der Nähe des Münchener Olympia-Einkaufzentrums neun Menschen und danach sich selbst erschossen. Über einschlägige Internet-Foren hatte Paul zuvor Kontakt mit dem Killer. „Sonboly“, erklärt Paul, „habe ich kennen gelernt, weil er einsam war und sich missverstanden fühlte“. Beide befanden sich auf einer Wellenlänge. Sie waren psychisch gestört.

Der Attentäter von München machte eine rassistisch konstruierte Gruppe für sein subjektiv erlittenes Unrecht verantwortlich. Seine Morde, die zunächst wie eine unpolitische Amoktat anmuteten, wurden daher im Nachhinein als politisch motiviertes Hassverbrechen eingestuft.

Diese schwer fassbare Gemengelage zwischen manifesten psychischen Störungen und einer politischen Radikalisierung in grenzwertigen Chat-Foren – zu denen auch die Gaming-Szene zählt – loten Zug und Spöri in ihrem Film aus. Dazu begeben die beiden Reporter sich undercover in eine Szene, in der Massaker wie die von David Sonboly nach perfiden Qualitätsstandards in einer Art Hitparade aufgelistet werden.

Er betont, er habe „nichts gegen Juden oder Ausländer“

Mit Hilfe eines Algorithmus, dessen Funktion graphisch illustriert wird, führt der Film vor Augen, mit welchen potenziellen weiteren Gefährdern Paul und sein früherer Internet-Freund David Sonboly Kontakt hatten. Sichtbar wird so ein weltweit verzweigtes Netz aus jungen Schülern, Azubis und Studenten, alle zwischen zwölf und 26 Jahren alt.

Viele von ihnen sympathisieren mit rechtsextremen Gruppierungen wie die „Feuerkrieg Division“ oder die „Atomwaffen Division“. Der Film verdeutlicht, dass die Kontakte zu diesen rechtsterroristischen Netzwerken ambivalent sind. „Ich würde“, erklärt Paul, „mein fünfzehnjähriges und mein heutiges Ich nichts als rechts bezeichnen“. Er betont, er habe „nichts gegen Juden oder Ausländer“.

Allerdings – und das ist das Problem – habe er im Netz immer wieder „Sachen geteilt, die sich auf Judenwitze bezogen haben“. Nicht zufällig schmückt einer der heute noch im Netz aktiven Gefährder sich mit dem Namen „Ivan, der Judenjäger“. Der Film lässt erahnen, dass diese rechte Gesinnung wie ein Parasit Besitz ergreift von psychisch oft labilen jungen Männern Besitz. Die Faszination für Amokläufer, erklärt Paul, habe er als Ausweg aus der Einsamkeit erlebt. Der Kontakt mit Leuten wie David Sonboly gilt in bestimmten Internet-Foren als Prestige. In dieser digitalen Welt habe Paul jene Wertschätzung erfahren, die er im wirklichen Leben vermisste.

Auf diese Weise wurde er zur tickenden Zeitbombe: und zwar nicht nur im rhetorischen Sinn. Paul erklärt, wie er den Grundriss seiner Schule studierte, um sein geplantes Massaker möglichst effektiv durchzuführen. Bombenanschläge seien zwar heimtückisch – doch ihn habe die Strategie gereizt.

Die Dokumentation „Liken.Hassen.Töten“ ist sehenswert. Zwar präsentieren die beiden jungen Regisseure sich ein wenig zu häufig vor der Kamera. Das wirkt prätentiös. In den stärksten Momenten lässt ihr Film jedoch erahnen, wie Amok laufenden jungen Männer ticken.

Manfred Riepe

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