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Hochzeit auf den ersten Blick: Das Sozialexperiment
Zwei Singles, die sich vorher noch nie gesehen haben, sollen sich live vor ganz Deutschland das Ja-Wort geben. Eines hat Sat1 dabei aber nicht bedacht.
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Die Grenzen der Moral sind naturgemäß spröde. Lange schon bevor ihn „Social Media“ zum Prinzip erhob, verhalf Christoph Schlingensief dem Tabubruch ins Feuilleton und der wesensverwandte Harald Schmidt gar Polenwitzen. Ob Holocaust, Hartz IV oder Homosexualität: Am Ende ist alles fernsehunterhaltungstauglich. Warum nicht auch das Heiraten?
Acht Jahre bevor der holländische Brachialentertainer John de Mol „Big Brother“ nach Deutschland exportierte, lud Schwester Linda 1992 zur „Traumhochzeit“ bei RTL. Wenn Sat1 fortan wieder abends zur Vermählung bittet, befindet sich das Format also offenbar in der Tradition legendärer Sendungen zum Herzensthema Ehe. Wäre da nicht dieser Titel: „Hochzeit auf den ersten Blick“. (Mittwoch, Sat 1, 20 Uhr 15).
Wie in sechs Staffeln zuvor, sucht ein psychologisch geschultes Expertentrio passende Partner für zwölf Singles, die sich erst im Standesamt kennenlernen, also nach dem Jawort herausfinden, ob sie auch füreinander bestimmt sind. In Kirchenkreisen stieß das ultimative Blind-Dating zwar schon 2014 auf eher gedämpfte Euphorie.
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki zum Beispiel monierte nicht zu Unrecht, die Show pervertiere Ehe und Liebe gleichermaßen. Beim Publikum hingegen kommt die Adaption des dänischen Originals „Gift Ved Første Blik“ vom Start weg an gut an.
Das war für Sat1 kein Grund, nicht an der Dramatisierungsschraube zu drehen. Die Trauung der siebten Staffel soll zur besten Sendezeit live erfolgen – inklusive Gelegenheit, wie einst bei „Dallas“ und „Denver“ am Altar zu scheitern. Doch was, raunt der Pressetext vorab, „wenn einer von ihnen im letzten Moment kalte Füße bekommt und nicht zur Zeremonie erscheint?“
Soziokulturell betrachtet würden die unbekannt Verlobten ein Stück ihrer historisch errungenen Menschenwürde retten, autonom über Mann oder Frau fürs Leben zu bestimmen. Wirtschaftlich böte das Sozialexperiment Echtzeit-Eheschließung – auch wenn Sat1 gerade entschieden hat, dieses coronabedingt zum Start erst mal auszusetzen – geldwertes Eskalationspotenzial, mit dem der Sender vom respektablen Vollprogramm zum RTL2 für Ordnungsfanatiker und Lustgreise gesunken ist.
Den Titel müsste Sat1 daher dringend mal ändern
Nachdem das Trash-TV-Personal längst alles datet und küsst, was nicht bei drei zu Arte zappt, kann nach dem Blind-Wedding daher nur noch die Blind-Begattung kommen. Am Tag des wissenschaftlich berechneten Eisprungs hätten Fremde darin Sex ohne Sichtkontakt und entscheiden bei der Kippe danach, ob sie abtreiben oder austragen, um eventuell Adoptiveltern zu casten.
Klingt surreal? Nicht, wenn man die Evolution von Sat1 betrachtet. Mit Formaten von „Schreinemakers“ bis „Schillerstraße“, „Planetopia“ bis „Pastewka“, „Will & Grace“ bis „Danni Lowinski“ hat das welke Feigenblatt des dualen Systems sein Medium lange Zeit bereichert und mit „ran“ sogar den Fußball.
Doch als der Pharmavertreter Thomas Ebeling den Mutterkonzern 2009 zum Onlineshop machte, verfiel das Heim großer TV-Persönlichkeiten wie Schmidt, Engelke, Beckmann, Böhme, Stratmann zur billigen Baracke für Pocher, „Promis unter Palmen“ und achtmal täglich Luke Mockridge – wenngleich mit halbierter Quote. Wäre der einstige Kohl-Kanal eine Partei, sie dürfte bald die Fünfprozenthürde reißen.
Umso trotziger wildert Sat1 im Revier kommerzieller Konkurrenten, die Kameralaien seit jeher so skrupellos vertauschen, entwürdigen, verkuppeln, bloßstellen, schönheitsoperieren, zuletzt gar mit Scheußlichkeiten tätowieren, dass die Entweihung heiliger Sakramente längst keinen Erzbischof mehr hinterm Altar hervorlockt.
Trotzdem schafft es „Hochzeit auf den ersten Blick“, die populistische Publikumsverachtung der Privaten auf ein neues Niveau zu senken. Im Selbstoptimierungskostüm der Generation Parship wird darin ja nicht nur der branchentypische Fremdschamvoyeurismus bedient, sondern schlimmer noch: das misogyne Prinzip arrangierter Ehen aus der Mottenkiste voremanzipatorischer Epochen gekramt.
Man braucht fürwahr kein Katholik sein, um das irgendwie schäbig zu finden. Den Titel müsste Sat1 daher dringend mal ändern. Weil ganze fünf von 28 Paaren der ersten sechs Staffeln noch verheiratet sind, wäre „Scheidung auf den zweiten Blick“ wohl passender.
Jan Freitag
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