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Erfolgsrezept Pop: Das grenzenlose Spiel mit menschlichen Emotionen.

© Oneinchpunch/Arte

Arte-Dokumentation „Pop & Passion“: Der totale Rausch

Eine Arte-Dokumentation über Lust, Exzess und Ekstase als Treibmittel der Pop-Industrie.

Stand:

"I want it all, I want it now – Ich will alles, und zwar jetzt gleich": Mit diesem hedonistischen Slogan formulierten Freddie Mercury und Queen das Versprechen und den Mythos der Popmusik. Eine Arte-Dokumentation dekliniert unterschiedliche Glücksvisionen durch, mit denen die Kulturindustrie ihre Produkte reizvoll und begehrenswert macht. In ihrem zweiteiligen Film erzählen Schyda Vasseghi und Thorsten Ernst eine moderne Passionsgeschichte.

Am Anfang standen die heute noch irritierenden Schwarzweiß-Fernsehbilder junger Mädchen, die hysterisch kreischend den Beatles zujubelten. Besinnungslose Hingabe für die Pilzköpfe auf der Bühne. Diese Gefühle sind authentisch. Sie sind Ausdruck entfesselter Leidenschaft, die im grauen Alltag unterdrückt werden muss.

Verliebtheit, sagte Sigmund Freud einmal, ist wie eine temporäre Psychose. Sie katapultiert den Verliebten in eine Parallelwelt der entfesselten Total-Emotion. Solche Welten, so zeigt die Dokumentation, stellt Popmusik auf unterschiedliche Weise bereit. Traditionell ist das Gefühl der Liebe – übergroß aufgebläht – unangefochtenes Thema Nummer eins im Pop-Business. Doch seit einiger Zeit gibt es in Songtexten immer weniger positive Worte. Stattdessen geht es um Trauer, Grübeleien und Aggressionen.

[„Pop & Passion“, Arte, 22 Uhr]

Tokyo Hotel und Rammstein: Scheinbar hat Teenie-Band mit den Brachial-Rockern der Neuen deutschen Härte nichts zu tun. Die Dokumentation zeigt jedoch, wie unterschiedlichen Zielgruppen jeweils ein Ventil für aufgestaute Wut gegeben wird. Das kann auch überaus subtil geschehen. Wie in der Ballade „Dear Mr. President“, mit der die Sängerin Pink ihre Wut auf die negative Einstellung des früheren US-Präsidenten George W. Bush zu Abtreibung und Homosexualität publikumswirksam artikulierte.

Zu den großen emotionalen Verstärkern des Pop-Business zählt das Image des Stars. Mit dem Aufkommen des Musikfernsehens wurden plötzlich visuelle Welten kreiert, in denen Gefühle förmlich explodierten. Jonas Akerlund berichtet, auf welche Tricks er in seinen Musikvideos für Madonna und Lady Gaga zurückgriff, um die Schraube der Wollust immer weiter anzuziehen.

Kalkulierte Promotions-Effekte

In seinem schlüpfrigen Video zum Rammstein-Lied „Pussy“ ging er so weit, dass es unzensiert nur noch auf Porno-Portalen zugänglich war. Gerade solche Vorfälle nutzt die Pop-Industrie als kalkulierten Promotion-Effekt. Der Reiz des einstweilen Verbotenen lässt dank Spezial-Editionen später die Kasse erst recht klingeln.

Mit dem Aufkommen von Social Media ist der Druck auf Stars immens gestiegen. Nichts ist mehr privat, jede Lebensäußerung fließt in einen Post, der Klicks erzeugen soll. Weil immer mehr Sänger sich dabei mit dem Image ihrer Kunstfigur identifizieren, läuft das Leben im Rampenlicht noch schneller aus dem Ruder. Lässt der Adrenalinkick dann mal einen Augenblick nach, so wird die Leere kompensiert mit Drogen – die immer Bestandteil der Popkultur waren.

Hippies nahmen LSD, Reggae-Musiker rauchten Marihuana. Und zur synthetischen Musik der Techno-Szene schluckt man die synthetische Droge Ecstasy. Dazu passend wirft die Dokumentation einen Blick zurück auf den sogenannten Klub 27. Janis Joplin, Jimy Hendrix und Jim Morrison beendeten ihre im Rausch erlebte Pop-Karriere jeweils mit 27 Jahren. Begründet wurde der ikonische Klub vom Rolling-Stones-Musiker Brian Jones. Später fügten sich dann noch Kurt Cobain und Amy Winehouse dieser gespenstisch genau gehenden Uhr des Exzesses.

In jüngerer Zeit scheint es, als würden Rapper einen Wettlauf des Todestriebs untereinander austragen. Musiker wie Jahseh Dwayne Ricardo Onfroy alias XXXTentacion oder Lil Peep verabschiedeten sich bereits mit 21 Jahren. Immer früher fordert der Pop-Rausch seine Opfer. Und so scheint es, als sollte der große Samuel Beckett Recht behalten mit seinem Credo: „Sie gebären rittlings über dem Grabe. Der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht“. Musik an. 

Manfred Riepe

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