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Eine Art von Selbstjustiz. Der türkische Theaterstar Haluk Bilginer (mit Cansu Dere), seit seinem Umzug nach London international bekannt, verleiht der Figur Agâh Bey eine Ambivalenz von beispielloser Authentizität, ohne sie mit Bedeutung zu überfrachten.

© Magenta TV

Türkische Serie „Ein guter Mensch“: Die Schöne und das Biest

Wert der Erinnerung in Zeiten des Gedächtnisverlustes: Die erste türkische Serie mit Theaterstar Haluk Bilginer im deutschen Fernsehen.

Stand:

Was ein guter Mensch ist und was nicht, ist vor allem Ergebnis seiner Taten. Nach jahrzehntelanger Arbeit ohne Fehl und Tadel etwa genießt der pensionierte Gerichtsschreiber Agâh Bey den verdienten Ruhestand. Tagein tagaus sitzt dieser sanfte Senior mit Schnauzer und Kassengestell im Sessel, sieht beim Frühstück fern, staubt Porzellanfiguren ab und ist auch sonst ein freundlicher Onkel wie aus dem Lehrbuch – wäre er nicht nebenbei ein Racheengel auf dem Kreuzzug gegen Verbrecher und ihre Helfer, der die Frage aufwirft, was genau das denn sein soll in dieser ungerechten, gewalttätigen, korrupten Welt: Ein guter Mensch?

Alle und keiner! So lautet jedenfalls die Antwort der gleichnamigen Serie, ein zwölfteiliger Stresstest für unsere Vorstellungen von Moral, Gewissen und guter Fiktion. Einerseits, weil „Sahsiyet“, so der Originaltitel, drei Generationen nach dem Anwerbeabkommen 1961 allen Ernstes das allererste TV-Format türkischer Herkunft im deutschen Fernsehprogramm ist. Andererseits, weil das Böse der Hauptfigur ab Donnerstag bei MagentaTV so arglos wirkt, dass deren Darsteller dafür 2019 den International Emmy als „Best Performance By An Actor“ bekam. Und zwar völlig zu Recht.

[„Ein guter Mensch“, zwölf Folgen, Magenta TV]

Denn der türkische Theaterstar Haluk Bilginer, seit seinem Umzug nach London 1980 auch international bekannt, verleiht Agâh Bey eine Ambivalenz von beispielloser Authentizität, ohne sie mit Bedeutung zu überfrachten. Als er bemerkt, dass sein Kater tot unterm Sofa liegt, nennt ihm sein Psychiater den verstörenden Grund: Alzheimer. Doch anstatt aufs Verlöschen aller Erinnerung zu warten, nutzt sie der verwitwete Rentner mit Tochter in Australien für eine Art von Selbstjustiz, die ihm elf Jahre zuvor noch kläglich misslungen war.

2007, lernen wir per Rückblende in sein Heimatdorf, wollte er die Täter eines Verbrechens samt Komplizen aus Polizei und Justiz erschießen, wurde aber von Skrupeln gebremst. Den Gedächtnisverlust vor Augen, holt er sein Vorhaben nun nach, und zwar so kaltblütig wie erfolgreich.

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Beides wirkt wegen seiner Biografie zwar leicht übertrieben; die Stärke von „Ein guter Mensch“ besteht aber auch darin, mit welcher lustvollen Beiläufigkeit Hakan Gündays Drehbuch vermeintliche Gewissheiten übers Seelenleben dekonstruiert. Wenn der Chef des ermittelnden Morddezernats (Necip Memili) vor den Leichen exekutierter Normalbürger feststellt, „das wahrhaft Böse“ werde oft von jenen begangen, „denen man es am wenigsten zutraut“, mag er also leicht küchenpsychologisch klingen. Trotzdem bringt er damit gut zum Ausdruck, was Film und Fernsehen nach einem Jahrhundert fiktionaler Rollenklischees endlich gelernt haben. Wobei hier Regisseur Onur Saylak ins Spiel kommt.

Vermeintliche Gewissheiten des Seelenlebens

Dank seiner Personalpolitik erscheint schließlich kein Charakter naheliegend, aber fast jeder denkbar – allen voran Nevre Elmas. Die junge Polizistin ist zwar zu hübsch, um wahr zu sein im türkischen Polizeidienst, weshalb sie nicht nur gegen die Vorurteile ihres misogynen Männerkollegiums ankämpfen muss, sondern auch gegen oberflächliche It-Girls im privaten Umfeld. Da die umgeschulte Schönheitskönigin Cansu Dere jedoch die einzige Frau im Präsidium angenehm fragil statt genretypisch tough spielt, rückt ihre Makellosigkeit ersichtlich in den Hintergrund einer spannenden Paarkonstellation.

Agâh Bey und Nevre Elmas verbindet hier nämlich mehr als die Tatsache, dass Letztere nach Erstem fahndet. Neben der gemeinsamen Herkunft im Tatort der Serie, garniert Agâh seine Opfer mit Hinweisen auf Nevre, was diese Vendetta zu einem komplexen Verwirrspiel macht und „Ein guter Mensch“ zur wortreichen Kontemplation über die notorische Vergesslichkeit unserer Gesellschaft. Einem Sozialgefüge unterschiedlichster Biografien, das keiner Demenz bedarf, um sich der eigenen Vergangenheit zu entledigen, sobald sie die Zukunft behindert.

Im Grunde handelt diese Mörderjagd also allenfalls oberflächlich von Selbstjustiz und Ungerechtigkeit, Räuber und Gendarm, der Schönen und dem Biest. Darunter lauern die dunklen Abgründe einer Kultur, deren moralisches Gerüst mit jedem Zivilisationsbruch mehr ins Wanken gerät. Was „Ein guter Mensch“ ist, erklärt die Serie daher auch nach zwölf Stunden nicht abschließend. Wohl aber, wie unterhaltsam, anspruchsvoll, professionell und ausdrucksstark das horizontale Fernsehen mittlerweile selbst in Ländern ist, aus denen hierzulande noch nie etwas zu sehen war.

Jan Freitag

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