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"Keine Bühnen für Transphobie!" Studierende demonstrierten mit Transparenten gegen den Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht an der Humboldt-Universität.

© dpa/Christophe Gateau

MEDIA Lab: Diskurs-Polizei

Von der Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann stammt der Begriff „Schweigespirale“. Der Mechanismus funktioniert offenbar heute noch.

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Wenn Ulrike Ackermanns Alarmruf zutrifft, ist es heute bereits fünf nach zwölf: Die Verfechter von Political Correctness und Cancel Culture „gefährden zunehmend eine freie und kontroverse Debatte sowie den Pluralismus in Forschung und Lehre“. Sie haben im öffentlichen Raum nicht nur in den USA, sondern auch bei uns weitgehend jene kulturelle Hegemonie erreicht, welche der italienische Philosoph und Kommunistenführer Antonio Gramsci schrittweise herstellen wollte.

Das jüngste Einknicken der Humboldt-Universität gegenüber Aktivisten ist dafür ein weiterer Beleg. Es ging um einen Vortrag, der - zunächst - nicht gehalten werden durfte, weil eine Biologin avisiert hatte, das Selbstverständliche sagen zu wollen – nämlich dass es, biologisch betrachtet, nur zwei und nicht x-beliebig viele Geschlechter gebe.

[Lesetipp: Ulrike Ackermann (2022), Die neue Schweigespirale. Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt, Darmstadt: wbg-Theiss]

Eine „neue Schweigespirale“, so Ackermann, hindere Viele daran, unbefangen auszusprechen, was sie denken, ja auch, was sie „wissenschaftlich“ wissen, wenn dies tonangebenden Meinungsführern nicht passt, die in den sozialen Netzwerken, aber auch an den Hochschulen selbst aktiv sind. Damit spielt die Leiterin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung in Bad Homburg auf die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann an.

Eine laute Minderheit schüchtert eine schweigende Mehrheit ein

In den 80er Jahren hatte diese mit ihrer Theorie weltweit wissenschaftlich Aufsehen erregt, dass medial lautstarke Minderheiten schweigende Mehrheiten einschüchtern und so in der öffentlichen Wahrnehmung die tatsächliche demokratische Meinungsverteilung verschleiern.

Der moralische Konformitätsdruck wird Ackermann zufolge heute in liberalen Demokratien nicht vom Staat oder der Bevölkerungsmehrheit ausgeübt, sondern von selbsternannten „Diskurspolizisten“.

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Weltweit sei „die Meinungsfreiheit in den letzten Jahren immer stärker unter Druck geraten“ – was in autoritären Regimes nicht verwundere.

Doch dass auch in den westlichen Demokratien „die Grenzen des Sagbaren immer enger gezogen werden“, empfindet Ackermann zu recht als „höchst beunruhigend“.

Stephan Russ-Mohl

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