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© Joanna Vortmann

Tagesspiegel Plus

Eine Begegnung mit Golineh Atai: Das Fenster zur Welt weit öffnen

20 Jahre arbeitete Golineh Atai für die ARD. Was sich die preisgekrönte Journalistin von einem Wechsel zum ZDF verspricht.

Wer sich fragt, warum Golineh Atai im vergangenen Jahr vom Bildschirm verschwunden war, findet in ihrem kürzlich erschienenen Buch eine Erklärung, wenn auch nicht die einzige. In „Iran – die Freiheit ist weiblich“ taucht die vielfach ausgezeichnete Auslandskorrespondentin in das Land ihrer Kindheit ein. Ein einjähriges Sabbatical nahm sie sich dafür vom WDR, für den sie zuletzt bei „Tagesschau“ und „Monitor“ im Einsatz war.

Die berufliche Auszeit endet nun mit einem Jobwechsel. Zum 1. Januar hat Golineh Atai die Leitung des ZDF-Studios in Kairo übernommen – und damit nach zwei Jahrzehnten ihren Dienst im ARD-Kosmos quittiert.

Die Metropole am Nil ist ihr nicht unbekannt. 2006 war sie schon einmal dort als Reporterin, damals im Auftrag des SWR, der sich mit dem WDR die Federführung des ARD-Studios teilt. Als Chefin des ZDF-Pendants kehrt sie zurück.

Für ihre Berichte vom Maidan-Platz wurde Atai zur „Journalistin des Jahres 2014“ gewählt.  
Für ihre Berichte vom Maidan-Platz wurde Atai zur „Journalistin des Jahres 2014“ gewählt.  

© Stephanie Pilick/picture alliance / dpa

Es ist, keine Frage, ein Karrieresprung auf die Führungsebene für die 47-Jährige und ein sehr gutes Engagement fürs ZDF. Nur: Warum konnte die ARD eine ihrer besten Kräfte nicht halten? Kurz vor ihrer Abreise erwischt man Atai in der ZDF-Zentrale in Mainz.

Diese letzten Tage will sie nutzen, um herauszufinden: Wie funktioniert die Hierarchie im ZDF? Wer ist mein erster, wer mein zweiter Ansprechpartner? Wo reiche ich welche Ideen ein? „Ich lerne jeden Tag dazu“, lacht sie.

Da sei die ARD doch mehr „form-heavy“ gewesen

Vieles sei beim ZDF durch die Zentralität und das Denken in bundesweiten Zusammenhängen „einfacher“, Entscheidungen fielen „schneller und unkomplizierter“. Da sei die ARD doch mehr „form-heavy“ gewesen: „Ich musste regional und bundesweit zugleich erfassen. Im Ausland hatte ich vergleichsweise wenige Berührungspunkte mit dem Mutterhaus, also der jeweiligen Landesrundfunkanstalt, während beim ZDF der fast tägliche Kontakt mit Mainz vom Ausland aus per se gegeben ist.“

Trotz der komplizierteren ARD-Strukturen hat es Golineh Atai weit gebracht. Nach dem Volontariat im SWR ist sie 2006 die erste nicht in Deutschland geborene TV-Journalistin, die ins Ausland geschickt wird. Der zweijährigen Station in Kairo folgt 2013 die Korrespondentenzeit in Moskau, die dominiert ist von der sogenannten Ukraine-„Krise“.

Gefragte Expertin: Golineh Atai, 2018 noch Korrespondentin im ARD-Studio Moskau, bei „Anne Will“. 
Gefragte Expertin: Golineh Atai, 2018 noch Korrespondentin im ARD-Studio Moskau, bei „Anne Will“. 

© NDR/Wolfgang Borrs

Für ihre Berichte vom Maidan-Platz wurde Atai zur „Journalistin des Jahres 2014“ gewählt. Im selben Jahr erhielt sie den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis und sah sich einer Debatte ausgesetzt, deren Folgen noch heute zu spüren sind.

Nicht nur, dass der ARD-Programmbeirat eine eigentlich vertrauliche scharfe Rüge an der Ukraine-Berichterstattung aussprach („nicht ausreichend differenziert“). Erstmals kamen Atai und alle anderen Russland-Berichterstatter, ob in TV oder Print, mit einer „Parallelrealität“ in Berührung, mit Verschwörungslegenden, staatlich konstruierten Narrativen und regelrechten „Informationskriegen“.

„Ich saß im ARD-’Presseclub nachgefragt‘ und wurde von deutschen Zuschauerinnen und Zuschauern mit genau der gleichen Argumentationslogik des russischen Staatsfernsehens konfrontiert“, erinnert sich Atai. Noch heute frage sie sich, woher diese Leute kamen, woher sie ihre Thesen hatten.

„Es war der erste Ausbruch einer Vertrauenskrise in den öffentlich-rechtlichen Medien, der uns deutlich machte, dass wir unsere Gatekeeper-Funktion verloren hatten. Und dass wir uns mit vielen Konkurrenten auf einem Markt bewegen, ob das obskure Telegram-Gruppen sind oder Staatssender, die mit einem ganz anderen Auftrag Journalismus machen.“

Sie selbst wuchs in einer Familie auf, die mit dem Thema Propaganda früh konfrontiert war. Als 1979 in Iran die Klerikal-Diktatur ausgerufen wurde, ging ihre Mutter auf die Straße, um gegen den Kopftuchzwang zu demonstrieren. Das Ohr des Vaters hing am Programm der BBC und von Voice of America auf Persisch, auch noch im Exil in Hoffenheim, wohin die Familie 1980 floh.

Ich möchte die Geschichten von Menschen erzählen, die existenziellen Kämpfen ausgesetzt sind.

Golineh Atai

Es wurde viel diskutiert, politisiert, hinterfragt: Wie funktioniert Propaganda? Was ist die Rolle eines Reporters? Wie objektiv kann er sein? „Meine Eltern beschäftigten sich sehr damit, wie die westlichen Medien über den Iran berichten. Das hat mich natürlich geprägt.“

Was ihr Geburtsland betrifft, so gehört es nicht zum künftigen Berichtsraum. Vom Maghreb über den Tschad und die Arabische Halbinsel bis zu den Hotspots Syrien und Irak reicht ihre Zuständigkeit für die kommenden drei, sehr wahrscheinlich fünf Jahre. Fragt man Golineh Atai, warum es sie ausgerechnet wieder in diese Ecke der Welt zieht, spricht sie davon, dass sie der Nahe Osten noch immer so sehr fasziniere.

2014 wird Golineh Atai in Hamburg mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis geehrt.  
2014 wird Golineh Atai in Hamburg mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis geehrt.  

© Daniel Bockwoldt/picture alliance / dpa

„Ich möchte die Geschichten von Menschen erzählen, die existenziellen Kämpfen ausgesetzt sind – und dabei ein Stück weit die Zuschauerinnen und Zuschauer aufrütteln.“ Gut möglich ist auch, dass sie beim WDR keine Perspektive für sich sah. Die Top-Jobs, zumal die in Moskau und Washington, sind auf absehbare Zeit vergeben. Als das ZDF in Kairo eine Nachfolge für Ulli Gack suchte, der in Mainz neue Aufgaben bekommt, griff Atai zu.

Auslandsberichterstattung definiert sie als „Fenster zur Welt“ und ihre Korrespondentenzunft als „eine Art Thermometer“, das Entwicklungen erfühlt. „Wenn wir uns nicht mit der Welt beschäftigen, dann beschäftigt sich die Welt mit uns“, sagt sie.

Was wissen wir über den Klimawandel in Nahost? Wissen wir, wie dramatisch die Lage dort ist? Dass Menschen vor Dürre fliehen? „Wir müssen es wissen!“, findet Atai, „damit wir uns hier im Westen darauf vorbereiten und vor Ort einbringen können. Der erste Schritt ist, genügend Informationen über diese Menschen und Entwicklungen zu bekommen.“

In der ARD sind Sendeplätze dafür weggefallen. „Weltweit“ im WDR konnte Atai früher nutzen, um ausführlicher über Land und Leute zu berichten, anstatt nur politische Zusammenhänge in 90 Sekunden in die „Tagesschau“ zu pressen.

Golineh Atai ist nicht die einzige Auslandskorrespondentin, die bezweifelt, dass es hilfreich ist, wenn solche Formate fehlen. Auch beim neuen Arbeitgeber sind Sendeplätze rar. Ein Doku-Zweiteiler über die Golf-Staaten ist fest eingeplant. Ende 2022 stehen die Weltklimakonferenz in Kairo und die WM in Katar an. Gelegenheiten, um das Fenster zur Welt weit aufzustoßen. Ein „Inschallah“, dass es ihr beim ZDF besser gelingt.

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