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Gut dokumentiert. Von Erna und Helmut Machemer und ihrer Familie gibt es erstaunlich viel Material.

© Sagamedia

TV-Dokumentation: Eine Liebe in Nazi-Deutschland

„Eine Familie unterm Hakenkreuz“: Eine Arte-Dokumentation erzählt von einem Augenarzt und seiner Frau während der NS-Zeit, die jüdische Vorfahren hat.

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Helmut Machemer, Augenarzt aus Stadtlohn im Münsterland, hatte sich gleich zu Beginn des Krieges freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Sein Ziel: eine besondere Anerkennung durch den nationalsozialistischen Staat. „Es geht um meine drei Kinder“, schreibt er im Dezember 1941 in einem Brief an seine Frau Erna. „Ich muss erreichen, dass sie als Arier erklärt werden.“ Im Mai 1942 ist es soweit: Helmut Machemer wird das Eiserne Kreuz I. Klasse verliehen.

Kurz darauf wird er in der Ukraine durch eine Granate getötet. Ein dreiviertel Jahr nach seinem Tod erhält die Familie die Bescheinigung zur „Deutschblütigkeit“ – ein im NS-Staat ausgesprochen seltener Vorgang. Erna, deren Mutter aus einer jüdischen Familie stammt, überlebt den Krieg mit ihren Söhnen.

Was diese ambivalente Familiengeschichte von anderen persönlichen Schicksalen unterscheidet, ist eine reiche Materiallage: Machemers Eltern hinterließen zahlreiche Briefe, Fotos und mehr als neun Stunden Filmmaterial – eine umfassende, wenn auch rein subjektive Grundlage für die Dokumentation „Eine Familie unterm Hakenkreuz“ von Jutta Pinzler. Die Autorin sorgt durch weiteres Archivmaterial und Interviews vor allem mit Hans Machemer, dem zweiten Sohn, für Einordnung. Die grafischen Animationen wirken liebevoll, allerdings rollt schon mal eine gezeichnete Träne die Wange herab. Dramatik und Emotion vermitteln sich eigentlich auch ohne kitschige Illustration.

[„Eine Familie unterm Hakenkreuz“, Arte, Donnerstag, 20 Uhr 15]

Erst einmal zeugen die Briefe in einem wunderbar altmodischen Stil von großer Liebe. „Du bist mir ein Stück weit in die Seele gewachsen“, schreibt Helmut. Und Erna: „Mir war’s das schönste Wunder meines Lebens, dass ich Dich finden durfte.“ Die 20-jährige Medizinstudentin Erna und der 26-jährige Doktorand Helmut lernen sich im Sommer 1929 kennen. Sie führen vorerst eine Fernbeziehung. Erna wechselt nach Berlin, Helmut tritt eine Stelle in Mainz an. Fotos und Filme zeigen ein unbeschwert verliebtes Paar. Dass ihre Mutter aus einer jüdischen Familie stammt, weiß Erna nicht. Ihr Vater, ein Professor an der Forstlichen Hochschule in Eberswalde, hatte vor der Heirat verlangt, dass Ernas Mutter jeden Kontakt zu ihrer Familie abbricht. Sein Enkel Hans Machemer spricht von „kulturellem Antisemitismus“.

In tödliche Verzweiflung gestürzt

Als Erna von ihrer jüdischen Abstammung erfährt, stürzt sie das im Sommer 1932 in eine „tödliche Verzweiflung“, wie sich ihr Sohn heute erinnert. Bestürzend viel sagend der Satz ihres Vaters: „Wenn Du Dir gedemütigt vorkommst durch das Judenblut in Deinen Adern, so kannst Du immerhin auf die 400 Jahre alte Familie pochen, die doch in gewissem Sinne in der Wertgeltung einen Ausgleich bietet.“ Erna bietet Helmut an, die Beziehung zu beenden. Helmut entscheidet sich jedoch anders. Ende 1932 heiraten sie, im März 1933 kommt ihr erster Sohn zur Welt, im September 1934 der zweite Sohn Hans, der nun das Familienarchiv für Jutta Pinzlers Film öffnete. 2018 erschien bereits das Buch „Wofür es lohnte, das Leben zu wagen“ (Europa-Verlag, 464 Seiten, 29,90 €), das sich ebenfalls der Geschichte der Machemers widmet.

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Pinzler geht respektvoll mit dem Nachlass um und lässt Sohn Hans, einen Biologie-Professor im Ruhestand, immer wieder zu Wort kommen. Helmut Machemer sei kein Held gewesen, erklärt er, aber „ein wunderbarer Mensch und liebender Vater“. Die Filmaufnahmen aus dem Krieg zeigen meist nur harmlose Szenen, vom Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion dokumentiert Machemer allerdings, wie seine Kameraden die Hütten eines Dorfs in der Ukraine anzünden. Auch seine Briefe lassen keine Distanz zum Nazi-Regime erkennen, im Gegenteil. Helmut Machemer war SA-Mitglied, beteiligte sich aber am Versuch, den jüdischen Dekan der Augenklinik in Münster, Aurel von Szily, mit einer Ehrenerklärung vor der Entlassung zu schützen. 1937 verließ ihn Erna für einige Wochen, weil Helmut Machemer eine Affäre mit seiner Sprechstundenhilfe begann, aber die Ehe hatte bis zum Schluss Bestand.

Jutta Pinzler bemüht sich außerdem, Ernas Alltag in Stadtlohn zu rekonstruieren. Man kann dennoch nur erahnen, was es bedeutete, als „Halbjüdin“ in einem durch und durch antisemitischen Umfeld zu leben. Hans Machemer erinnert sich ausschließlich an taktvolle Lehrer, Freunde und Bekannte. Sie seien als Kinder „unglaublich behütet“ aufgewachsen. Pinzler hat allerdings recherchiert, wie es zuging, als die zehn jüdischen Mitbürger Stadtlohns vor aller Augen auf Lkws geladen und deportiert wurden. Da bekamen einige Kinder schulfrei, damit sie zum Abtransport die mit ihrer Lehrerin einstudierten Schmählieder singen konnten.

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