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Und was jetzt? Auf dem Geflüchtetenboot erfährt Skipper Jan Garbe (Friedrich Mücke, links) von Ismail Sabia (Mohamed Achour, Mitte) und Bilal Sabia (Tariq Al-Saies), dass der Motor des Bootes defekt ist.

© Reiner Bajo/ZDF

ZDF-Serie "Liberame": Geflüchtete retten?

Die ZDF-Dramaserie „Liberame – Nach dem Sturm“ stellt eindringlich die Frage nach Verantwortung und Schuld.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nimmt alle unsere Sinne gefangen, Aber dieser Hotspot ist nur einer unter anderen, so finden die Fluchtbewegungen allüberall kein Ende, UNHCR schätzt die aktuelle Zahl der Geflüchteten auf 100 Millionen Menschen.

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Die Familie Sabia aus Syrien und der Nigerianer Akono Chuke (Emmanuel Ajayi) waren auch Geflüchtete. Aber sie leben und arbeiten jetzt in Hamburg. Mit ungelösten Traumata. Vor wenigen Jahren war ihr Boot im Sturm gesunken, sieben Menschen ertrunken, darunter Jasmin, die geliebte Tochter von Ismail (Mohamed Achour) und Zahir (Kenda Hmeidan) und Schwester von Bilal (Taliq Al-Saies). Akono verlor seinen Vater.

Alles hatte damals auf dem Mittelmeer nach Rettung ausgesehen. Jan Garbe (Friedrich Mücke), seine Frau Caro (Johanna Wokalek) und seine Schwester Fiona (Natalia Belitski), Freundin Helene Neumann (Ina Weisse) und Daniel Schilling (Marc Benjamin) waren auf Segeltörn und dann auf das Flüchtlingsschiff gestoßen, das wegen eines Motorschadens auf dem Mittelmeer trieb. Skipper Jan stellt die entscheidende Frage in die Fünferrunde: Rettung oder nicht. „Ich dachte, wir sind alles gute Menschen!“

[„Liberame – Nach dem Sturm“, ZDF, Montag und Mittwoch, 20 Uhr 15, ZDF-Mediathek, alle Folgen]

Gutes zu wollen, heißt eben nicht immer, Gutes zu tun. Die Segler haben Mitgefühl, aber auch Angst vor den Konsequenzen ihres Handelns. Fiona, vielleicht die größte Skeptikerin in der Runde, schimpft ihren Bruder einen „Flüchtlingsberater“. Es kommt zur Abstimmung: 3 zu 2 heißt die Mehrheit fürs Abschleppen. Wer genau dafür, wer dagegen war, wird jetzt nicht bekannt.

In der Nacht zerfetzt ein gewaltiger Sturm die Abschleppleine – oder wurde sie manipuliert wie auch der Motor des Flüchtlingsschiffs, um die Fahrt ins gefürchtete Libyen zu verhindern? Die Schiffe treiben auseinander, Helene schläft auf der Nachtwache ihren Rausch aus und bekommt nichts mit.

Jahre später, jetzt in Hamburg, kommt es zu einer scheinbar zufälligen Begegnung zwischen Taxifahrer Ismail Sabina und Werftbesitzer Jan Garbe. Der „Liberame“-Kapitän will mit ihm über das damalige Drama „in Ruhe sprechen“. Die Sabias besuchen die Garbes zum Brunch, die Atmosphäre verkrampft sich zusehends, bis es aus Zahra Sabia Zahir herausbricht: „Sie haben unsere Tochter getötet. Ihr habt sie getötet.“

Sehnsucht nach Erlösung

Diese hochintensiven Minuten stehen am Ende der ersten Folge der sechsteiligen Dramaserie „Liberame – Nach dem Sturm“ im ZDF. Der Titel ist gleichbedeutend mit dem Namen der Yacht und dieser Name erfährt eine ungeahnte Bedeutung: „Liberame“ bedeutet „Erlöse mich“. Denn danach suchen sie alle, die Überlebenden des gekenterten Flüchtlingsboote und die Besatzung der Segelyacht.

Der Zuschauer wird sofort in Beschlag genommen. Wie in einem Puzzle fangen Vergangenheit und Gegenwart gegeneinander zu bedingen. Einem Kriminalfall gleich werden die damaligen Ereignisse auf dem Mittelmeer erzählt, Stück für Stück, Szene für Szene. Aber was bedrängender, fesselnder und packender ist, das ist der um sich greifende Wunsch nach Befreiung. Nach Erlösung von Schuld, Zweifeln und Trauer. Während die Segler mit schweren Vorwürfen konfrontiert werden, wühlt die Konfrontation auch die Geflüchteten auf: Haben sie den richtigen Moment gewählt, um ihre Heimaten zu verlassen? Hätte es Alternativen gegeben?

Nach dem Sturm ist vor dem Sturm. Ismail Sabina, mehr ratlos als überzeugt, geht zur Polizei. Der Fall wird zum Kriminalfall, doch die entscheidende Herausforderung tobt im Verbund der Geflüchteten- wie im Kreis der Besatzung.

„Liberame – Nach dem Sturm“ kann gesehen werden als Parabel über Europa und das tausendfache Sterben von Geflüchteten. Was das Publikum vor die dieselbe Frage bringt wie die Segler: Könnten wir mehr tun und weniger zögern?

Das Autorenduo Astrid Ströher und Marco Wiersch führt eine Vielzahl von Personen, ein, um eine möglichst weite Perspektive auf das damalige wie gegenwärtige Geschehen. „Liberame“ verteilt die Schuldfrage auf viele Schultern und verzichtet auf ein Urteil. Der Zuschauer soll für sich entscheiden.

Jede Figur bekommt ihren Hintergrund

Die ZDF-Produktion lässt sich, indem sie das Drama breit aufspannt und jeder Figur ihren Raum und Hintergrund gibt, Zeit, viel Zeit. Die sorgfältige Figurenzeichnung verwandelt die möglichen Thesenträgerinnen und -Trägern in glaubwürdige Menschen. Nehmen wir Ismail Sabina und seinen Bruder Bilal. Ismail fährt Taxi, sorgt sich ums Essen für seine Familie, während seine Frau, eine Ärztin, an ihrer Promotion arbeitet. Ismail sieht seine Aufklärungsmission von Gott gesteuert, bei Bilal stellt sich die Frage, woher die Narben auf seinem Rücken stammen. Tiefer und tiefer taucht das Publikum in die subjektive Wahrnehmung der Personen ein, ergründet und begreift Beweggründe und Emotionen.

Beide Seiten, wenn man sie so nennen darf, werden gleichwertig behandelt. Hier der Aspekt der Katharsis, sich der Schuld stellen und Verantwortung übernehmen, dort der Aspekt, dass fern der Heimat ein neues Zuhause gefunden werden kann.

Das Thema Rassismus kommt vor allem in der Figur des aus Nigeria geflohenen Akono Chuke ins Spiel, der nun von der Abschiebung bedroht ist. Akono wird ebenfalls nicht als passiver Hilfsempfänger dargestellt: Er trainiert Kinder und Jugendliche in einem Fußballverein, aber als PoC stößt er auf besondere Vorbehalte – auch bei anderen Geflüchteten. „Liberame“ entfaltet sich multiperspektivisch, ohne das eigentliche Drama aus den Augen zu verlieren.

Wenn die Serie und die innenliegenden Fragen nicht oberflächlich abgehandelt werden, braucht es eine entsprechende Regie und ein entsprechendes Ensemble. Adolfo J. Kolmerer, der aus Caracas in Venezuela stammt, inszeniert mit dieser Genauigkeit und Sensibilität, die die Handlung und die Figuren verlangen. Es geht um viel, und viel wird investiert.

Opfer werden Menschen

Das Ensemble agiert vorzüglich und fast ist es ungerecht, Friedrich Mücke als Skipper Jan Garbe und Kenda Hmeidan als geflüchtete Mutter und Ärztin herauszuheben. Gerade die Schauspielerin des Gorki-Theaters in Berlin braucht keine dramatischen Gesten, sondern nur Ausdruck und minimale Bewegungen, um die Erschütterung eines Menschen zu zeigen. Und der Jan Garbe des Friedrich Mücke ist auch mehr als der verantwortungsvolle, mitfühlende Kapitän und Werftbetreiber. Glaubwürdigkeit wird nicht aus-, sondern dargestellt.

Der besondere Wert der ZDF-Anstrengung liegt darin, dass gezeigt wird, wie Vorurteile generalisieren und erst genaues Hinsehen jedwedes Opfer zu Menschen individualisiert. „Liberame“ tendiert damit ins Repräsentative und Gesamtgesellschaftliche, vielleicht sogar ins Utopische, in die positive Vision hinein. Das Thema wird nicht definiert, es wird ausprobiert.

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