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Medien: In dubio pro televisione

Barbara Sichtermann versteht den Visa-Ausschuss dank „Visa-TV“ besser

Was, um Himmels willen, macht ein Ausschuss? Und was erst ein Untersuchungsausschuss? Was verbirgt sich hinter Wörtern wie „Reiseschutzpass“, „Hausbesprechung“, „lineare Stellenstreichung“ oder gar „Geheimschutzordnung“? Die oft beklagte Politikverdrossenheit im Volk hat bestimmt etwas mit der Undurchdringlichkeit bürokratischer Abläufe und der Schwervermittelbarkeit politischer Machtverschiebungen zu tun. Auf deren Belauschung und Verständnis aber läuft politisches Interesse hinaus, nachdem der parlamentarische Schlagabtausch als vordergründiges Theater zunehmend enttäuscht. Politisches KleinKlein, Alltagspraxis, Gezerre, Erlasse und Hausbesprechungen sollten jetzt das Interesse auf sich ziehen. Bloß wie?

Es kann gut sein, dass das Parlamentsfernsehen hierzu künftig einen wichtigen Beitrag leistet. Der Visa-Untersuchungsausschuss, live im Fernsehen und damit eine Premiere, lieferte ein Beispiel für konflikthafte politische Auseinandersetzung, bei der es um sehr spezielle Fragen ging, die auf wundersame Weise allgemein nachvollziehbar wurden.

Das Klein-Klein der Visa-Erteilung, der Informationsflüsse, der Abstimmungen zwischen Innen- und Außenministerium, all das wurde hier plastisch und sinnreich, wobei die Anteilnahme durch die Ähnlichkeit mit dem Gerichtsfernsehen – ein Zeuge, ein Verhör, die brennende Frage: Was ist die Wahrheit? – sicher gesteigert wurde. Die Befürchtungen, aufgrund derer man das Fernsehen bislang nicht reingelassen hatte, zielten auf die Verwandlung der Verhandlung in eine Show, auf Störungen der Wahrheitsfindung durch eitel posierende Teilnehmer und wild zoomende und schwenkende Kameras.

Sie erwiesen sich als unbegründet. Das Volk, seine Vertreter und seine Regierung sind Kameras gewöhnt. Man konnte sich als TV-Zuschauer nicht vorstellen, dass der konzentriert vortragende und antwortende Ludger Volmer (Grüne), der Ausschussvorsitzende Hans-Peter Uhl (CSU) und die diversen Nachfrager ohne Kameras anders agiert hätten.

Politskandale haben nicht nur schlagwortartige Labels („Visa-Affäre“, „Volmer-Erlass“) und parteiliche PresseEchos, sie haben auch ihre wahre Wirklichkeit, die der Ausschuss mit langen Reden, viel Papier, hochnotpeinlicher Befragung und teils klaren, teils verklausulierten Antworten zu rekonstruieren versucht. Das ist ein ungeheuer spannender und der Diskursstruktur der Demokratie angemessener Vorgang, der dem (Fernseh-)Publikum keineswegs vorenthalten werden sollte. Anders als bei der Lektüre einer Tageszeitung oder eines Sitzungsprotokolls hat man hier zusätzlich den – allerdings stets mehrdeutigen – Ausdruck der Gesichter und Gesten.

Volmer, beim Versuch, seinen Beitrag zu einem „modernen Grenzmanagement“ zu erläutern, stellt zunächst klar, dass der nach ihm benannte Erlass so nicht heißen dürfe, da er selbst ihn gar nicht verfasst, sondern bloß gebilligt habe. Im Übrigen habe man das Beste gewollt.

Hans-Peter Uhl hält sich zurück und ist offenbar ganz der Wahrheitsfindung verpflichtet: „Was war in Kiew der Kern des Problems?“ Weitere Befrager, zum Beispiel Eckart von Klaeden (CDU) und Hellmut Königshaus (FDP), verbohren sich in die Details des Erlasses. Sie möchten erreichen, dass dessen ominöse Schlussformel „In dubio pro libertate“ als die Pforte anerkannt wird, durch die das Heer der Schleuser, Schwarzarbeiter und Mädchenhändler in die schutzlose Republik geströmt ist.

Der Zuschauer verspürt ein Unbehagen. Er fragt sich: Kann so ein kleiner, gut gemeinter, schon leicht angestaubter Erlass den ganzen großen Zuwanderungsdruck verantworten? Hätten nicht ohne ihn die Entwurzelten aus dem Osten die grüne Grenze zu finden gewusst? Hier wird etwas über einen reformierten Erlass zu verhandeln versucht, was erkennbar größere Dimensionen hat.

Das Fernsehen liefert zu den Standpunkten die Personen, und es erleichtert es dem Publikum, Ranküne von Rekonstruktion, Parteipolitik von Bestandsaufnahme und Gerüchte von Gerechtigkeit zu scheiden. Es sollte auch künftig dabei sein.

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