
© Arcadia/BR
„Man will mir den Kopf einschlagen.“: Nein zum Krieg!
Eine Arte-Dokumentation porträtiert Russen, die mit der Politik ihres Landes nicht einverstanden sind.
Stand:
Vor dem Denkmal eines öffentlichen Platzes in Irkutsk postiert sich ein junger Russe. Egor Lesnoy hält ein beschriftetes Pappschild hoch: „Ich bin Sibirier. Ich bin gegen den Krieg in der Ukraine. NEIN ZUM KRIEG!“ Es dauert nicht lange, bis Polizisten erscheinen. „Warum sind Sie hier?“ „Einzelmahnwache“, erklärt Egor. Ein Uniformierter darauf: „Nach Artikel zwanzig Punkt zwei werden Sie festgenommen und ins Polizeirevier sieben eingeliefert“.
Aus welchem Grund, will Egor wissen. „Zwanzig Punkt zwei“, wiederholt der Polizist bürokratisch. Doch so einfach lässt der Demonstrant sich nicht abspeisen: „Ich bin kein Polizist. Erzählen Sie mir von dem Artikel.“ „Dann lesen Sie nach“, erklärt der Uniformierte stoisch. Egor muss mitkommen.
Das ist keine Szene aus einem Roman von Franz Kafka. Sondern ein alltäglicher Vorfall vom 27. Februar 2022. Es ist der dritte Tag nach Kriegsbeginn. So wie der junge Dissident Egor protestieren Tausende junge Russen gegen den völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine. Einem von ihnen gibt der Film „Abgetaucht. Junge Russen auf der Flucht“ eine Stimme (Arte, Dienstag, 23 Uhr 20).
Propaganda für den russischen Militarismus ist allgegenwärtig
Dabei wirft die Regisseurin Anna Winzer auch einen Blick auf den Alltag in einer sibirischen Stadt. Trotz weißer Schneedecke erscheint alles grau in grau. Großflächige Bildschirme am Straßenrand werben dafür, dass Sibirier ihre Mitbürger im Donbass „nicht im Stich lassen“ würden.
Die Propaganda für den russischen Militarismus ist allgegenwärtig. Passanten auf der Straße unterstützen Putins Politik. „Damit es keine amerikanischen Militärstationen gibt neben uns. Damit wir sichere Grenzen haben“, erklärt eine Dame mit heruntergezogenem Mundschutz.
Der Film zeichnet die ersten zwei Wochen nach Kriegsbeginn aus der Perspektive von Egor und seiner Familie nach. Der junge Russe ist begeisterter Umweltaktivist. Dank seiner Liebe zum Baikalsee ist der Blogger und Influencer nicht ganz unbekannt. Die internationale Presse berichtete, wie er gemeinsam mit einem Team aus tätowierten Müllsammlern tonnenweise Altreifen vom Seegrund heraufholte. Spektakuläre Internetvideos zeigen, wie Egor im dicksten Winter als Freitaucher unter der Eisdecke entlang schwimmt.
Das sind Bilder wie aus einer anderen Welt. Doch der Angriffskrieg veränderte alles. Trotz seiner Lebensfreude, die aus der Umweltverbundenheit mit dem Baikalsee hervorgeht, haben Egor und seine Familie mit Russland gebrochen. „Man raubt uns unsere Heimat“, erklärt Egor. „Als Russen sind wir geächtet. Wir werden nirgendwo auf der Welt dazu gehören“.
Seine Frau Nastya reist derweil samt der kleinen Tochter mit einem überteuerten Ticket nach Kirgistan aus. Egor darf das Land nicht verlassen. In Irkutsk muss er auf seinen Gerichtstermin warten. Der Vorwurf: „Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration“. Inzwischen sind die Gesetze weiter verschärft worden. Wer etwas gegen Putin sagt, muss mit bis zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe rechnen. Egor lässt sich nicht einschüchtern.
Am sechsten Tag nach Kriegsausbruch tritt er bei einem unabhängigen YouTube-Kanal vor die Kamera. Das Wort „Krieg“ ist in russischen Medien inzwischen streng verboten. Der Moderator erwähnt daher nur eine „Spezialoperation in der Ukraine“. Egor redet dagegen Klartext. Er sei „gegen den Krieg“. Er habe sich auch schon online dagegen ausgesprochen und deswegen Drohungen erhalten. Er sagt: „Man will mir den Kopf einschlagen, mich ertränken und so weiter.“
Das klingt recht martialisch, aber der Film ist schon alles andere als reißerisch. Zu sehen sind keine brutalen Handgemenge. Auch keine Demonstrationen, die niedergeknüppelt würden. Der Regisseurin gelingt das intime Porträt eines jungen Mannes, der mit der Militärpolitik seines Heimatlandes nicht einverstanden ist. Und der sich deswegen nicht als Opfer versteht. Egor Lesnoy wird aber auch nicht zum strahlenden Helden stilisiert. Anna Winzers Dokumentation ist eine sehenswerte Fußnote zum Thema Zivilcourage.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: