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„Es war meine Realität“, entschuldigte sich Misha Fonseca später.

© Mishas Story Ltd

Geschichte einer Lüge: „Misha und die Wölfe“ eröffnet das Arte-Dokumentarfilmfestival

Zum Holocaust-Opfer stilisiert: Warum sich Menschen dazu verführen lassen, die unglaublichsten Geschichten für bare Münze zu nehmen.

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Ein jüdisches Mädchen aus Belgien, sieben Jahre alt, sucht ihre deportierten Eltern. Irrt während des Krieges auf dem Weg nach Deutschland allein durch die Wälder. Überlebt den Holocaust, weil sich ein Wolfsrudel ihrer annimmt. Eine herzzerreißende Geschichte, die als internationaler Bestseller um die Welt ging und von Disney verfilmt wurde. Nur: Die Geschichte war erfunden. Die in Belgien geborene Misha Fonseca aus Millis, Massachusetts, begann sie in ihrem Umfeld zu Beginn der 1990er zu erzählen, schließlich auch in der örtlichen Synagoge. Ein von einem Kleinverlag veröffentlichtes Buch brachte die mediale Lawine 1997 ins Rollen. Gut zehn Jahre später stellte sich heraus, dass Misha Fonseca aus einer katholischen Familie stammte. Ihre Eltern wurden zwar deportiert und in Nazi-Deutschland getötet, alles andere entsprang aber Mishas Fantasie.

Der belgisch-britische Dokumentarfilm „Misha und die Wölfe“, international koproduziert unter Beteiligung auch von Arte und ZDF, rekonstruiert die Geschichte dieser Lüge, ihrer hartnäckigen Aufrechterhaltung und auch ihrer mühevollen Aufdeckung. „Es ist nicht die Realität, aber es war meine Realität. Es war meine Art zu überleben. Ich bitte um Vergebung“, schrieb Misha Fonseca dem belgischen Journalisten Marc Metdepenningen, der für die Zeitung „Le Soir“ 2008 die familiären Hintergründe recherchierte.

[„Misha und die Wölfe“, Arte, Dienstag, 20 Uhr 15]

Der Film sucht nicht nur nach den persönlichen Motiven einer Tierliebhaberin, die mit der Wolfs-Fantasie Zuflucht vor ihren Kindheits-Erlebnissen suchte. Der britische Autor und Regisseur Sam Hobkinson („Fear City“) dokumentiert auch die mediale Karriere ihrer Lüge, die zahlreichen öffentlichen, oft tränenreichen Auftritte Fonsecas bei Fernsehsendern und Rundfunkstationen, die alle Zweifel beiseite schoben, um sich die irre Story einer vermeintlichen Holocaust-Überlebenden nicht entgehen zu lassen.

Kein Interview mit Hobkinson

Fonseca ist also häufig zu sehen, wollte aber Hobkinson selbst kein Interview geben. Dafür stehen zahlreiche andere Beteiligte vor der Kamera. Eine Schlüsselfigur ist Verlegerin Jane Daniel, die auf einen großen Erfolg für ihren Kleinverlag in den USA hoffte, dann aber nach einer saftigen Millionenstrafe im Urheberrechtsstreit mit Misha Fonseca vor dem Ruin stand. Hobkinson macht eine Art Krimi-Drama daraus: Nachdem die Verlegerin anfangs die Warnungen einer Historikerin in den Wind geschlagen hatte, geht sie nach dem Prozess mit Hilfe von zwei Ahnenforscherinnen den Widersprüchen in Fonsecas Geschichte nach.

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Hobkinsons Film handelt nicht zuletzt davon, wie gerne sich Menschen dazu verführen lassen, auch die unglaublichsten Geschichten für bare Münze zu nehmen, wenn sie mit großen Emotionen verbunden sind. Der Autor deckt den Mechanismus auf und zieht gleichzeitig alle Register, mit denen in Filmen Gefühle geweckt werden sollen. Spielfilmszenen, Nahaufnahmen, Animationen, Archivbilder von Krieg und Gewalt, musikalische Untermalung – und immer wieder Wölfe. Und wenn Hobkinson zeigt, wie Filmleute die Kulisse nach Dreharbeiten mit Misha Fonseca wieder abbauen, darf man das wohl als Hinweis verstehen, „gebauten Wirklichkeiten“ jeder Art zu misstrauen.

Arte zeigt „Misha und die Wölfe“ zum Auftakt seines Dokumentarfilm-Festivals mit einem Dutzend weiterer Filme bis zum 29. November. Auffällig ist, dass deutsche Sender und Produktionsfirmen nur an wenigen Projekten beteiligt waren, darunter „Der Nomade – Auf den Spuren von Bruce Chatwin“ von Werner Herzog am 28. November. Dafür lenkt Arte den Blick stark auf außereuropäische Themen, mit Filmen aus Tunesien, Südafrika, Burundi, Sibirien sowie einem Dreiteiler über die chinesischen „Umerziehungslager“ in den 1950er und 60er Jahren Dienstag. Alle Filme sind auch in der Mediathek von Arte zu finden.

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