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TV-Doku „Früh.Warn.System“: Wie abwehrbereit ist der Bundesverfassungsschutz?
Die Arte-Dokumentation „Früh.Warn.System“ hinterfragt die Effizienz-Defizite des Verfassungsschutzes.
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Der islamistische Anschlag 2016 am Berliner Breitscheidplatz und die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im vergangenen Jahr: Zwei Beispiele für das Versagen nachrichtendienstlicher Überwachung. Eine Arte-Dokumentation bilanziert die Defizite des Bundesverfassungsschutzes.
Nie zuvor in seiner siebzigjährigen Geschichte, so der Off-Kommentar, „hat sich der Verfassungsschutz so weit geöffnet wie für diesen Film“. Für die Dokumentation von Christian H. Schulz und Rainald Becker stellen Beamte sogar die Überwachung jenes islamistischen Ehepaares nach, das im Kölner Stadtteil Chorweiler 2018 einen Terroranschlag mit dem heimtückischen Gift Rizin vorbereitete. Nach Einschätzung von Experten hätten dabei zwischen 250 und 1000 Menschen zu Tode kommen können.
[Arte zeigt die Dokumentation „Früh.Warn.System“ am Dienstag um 22 Uhr 10]
Den entscheidenden Hinweis auf den Zugriff gab ein ausländischer Nachrichtendienst. Die mutmaßlichen Terroristen kommunizierten über verschlüsselte Messenger-Dienste. Deren Überwachung ist hierzulande aus juristischen Gründen nur eingeschränkt möglich.
Der Konflikt zwischen Datenschutz und nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist nur eine von zahlreichen Baustellen des Verfassungsschutzes. Thematisiert wird auch das Problem jener IS-Rückkehrer, die zu 80 Prozent wieder in der salafistischen Szene landen. Mit der Kamera begleitet der Film Beamte des Verfassungsschutzes, die IS-Aussteigern den Weg zurück in die Gesellschaft ebnen sollen.
Den zentralen Fokus richtet der Film jedoch auf die Frage, wie abwehrbereit deutsche Nachrichtendienste gegenüber rechtsextremistischer Gewalt sind. Zwei Problemfelder arbeiten die Autoren heraus. So habe sich das Budget des Bundesverfassungsschutzes zwischen 2016 und 2020 verdoppelt. Die Ergebnisse der Behörde bleiben trotzdem defizitär. Die Ermordung Walter Lübckes, der Amoklauf von Halle und die fremdenfeindlichen Morde des Todesschützen von Hanau: Hätte der Verfassungsschutz die Täter nicht auf dem Schirm haben müssen?
Die AfD als "Einstiegsdroge" für Verfassungsfeinde
Dieses Problem, so die These der Dokumentation, lässt sich nicht trennen von einem gesellschaftlichen Wandel. Die Wahl der rechtspopulistischen AfD in den Bundestag sei das Symptom für einen bedenklichen Rechtsruck. Allein 2019 gab es 64 Rechtsrock-Großkonzerte. Solche Veranstaltungen, die der Film mit versteckter Kamera dokumentiert, seien „die Einstiegsdroge“ für eine verfassungsfeindliche Gesinnung.
Die Filmautoren blicken einem Beamten der Cyber-Abteilung des NRW-Verfassungsschutzes über die Schulter. Deutlich wird dabei, welche Symbole Rechtsextreme in international vernetzten Online-Foren verwenden und mit welcher Metaphorik sie kommunizieren. Die Amokschützen von Christchurch und Halle inszenieren sich selbst, als würden sie in einem Ego-Shooter auftreten.
Erkenntnisse über solch subtilen Strukturen kann der Verfassungsschutz aber zuweilen nicht effektiv auswerten. In der verkrusteten Struktur dieses veralteten Beamtenapparates kommt es nämlich im festgelegten Turnus zur Rotation von Vorgesetzten. Aufgrund solcher internen Personal-Rochaden würden Mitarbeiter Sachgebiete zugewiesen, von denen sie keine Ahnung haben. Der Bundesverfassungsschutz: Kafka 2.0?
In dem vielstimmigen Film, der sich auf Politiker, Soziologen und Journalisten stützt, kommt auch Sinan Selen zu Wort. Der türkischstämmige Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz zieht eine selbstkritische Bilanz. Er fordert von seiner Behörde eine „ehrliche Fehlerkultur“. Einziges Manko des sehenswerten 90-minütigen Films: Potenzielle Gefahren, die von der linksextremen Szene ausgehen, werden ignoriert.
Manfred Riepe
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