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Eine Gedenkstätte erinnert an das Zugunglück von Eschede: In der TV-Sendung „Die Narbe“ werden Tragödien früherer Jahre ins Gedächtnis gerufen – und Betroffene schildern, was daraus menschlich folgte.

© NDR

Neues TV-Format „Die Narbe“: „Wir sind alle endlich“

Katastrophen und ihre Folgen, darüber spricht Anja Reschke in der dokumentarischen Gesprächssendung „Die Narbe“ mit ihren Gästen.

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Es gibt Ereignisse, die haben sich so tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Mitunter reicht ein Foto, um sie wachzurufen. Der verkeilte ICE bei Eschede, die Flugshow in Ramstein oder ähnlich erschütternd: ein Knäuel brennender Autos auf der A19. Jede dieser Katastrophen, sagt Anja Reschke ab Mittwoch im NDR, hat etwas Unauslöschliches hinterlassen, und das ist nicht allein die nackte Zahl der Toten. Es sind die seelischen wie körperlichen Narben der Überlebenden.

„Die Narbe“, so heißt Anja Reschkes dokumentarisches Talkformat, in dem sie den drei Schicksalsschlägen nur wenig Raum gewährt. Mehr nämlich geht es der meinungsstarken Journalistin darum, was jeder davon hinterlassen hat, um Traumata und Schuldigkeit. Im Fall des 8. April 2011 und der Autobahn-Massenkarambolage lautet die Frage: „Kann man für so ein Unglück jemanden zur Verantwortung ziehen?“ Anja Reschke stellt sie zu Beginn der ersten Folge, bevor Mariam Noori und Willem Konrad nahe Rostock auf Antwortsuche gehen.

[Die erste Ausgabe von „Die Narbe“ ist am Mittwoch um 21 Uhr im NDR-Fernsehen zu sehen]

Ein Sandsturm verdunkelte vor neun Jahren den Himmel. Mehr als 80 Fahrzeuge fuhren teils ungebremst ineinander. Das Resultat: acht Tote und 130 Verletzte, eine davon heißt Kirsten Ettmeier. Mit zertrümmertem Becken steckte sie im eigenen Auto fest, doch weil die Altenpflegerin am Anfang einer Kette fataler Auffahrunfälle stand, gilt sie nicht als Opfer, sondern als Täterin – und wurde am Ende als Einzige juristisch belangt.

Fünf Jahre später begleitet sie der NDR zum Ort des Unfalls, in die Reha, zur Arbeit oder nach Hause – stets auf der Suche nach Schuld und Sühne. Im Unglück suche der Mensch schließlich „instinktiv nach Verantwortlichen, nach Schuldigen“, erklärt Anja Reschke den Schwerpunkt der Episode. „Das kann ein Gefühl von Gerechtigkeit und Ausgleich schaffen.“ Nachdem die Dokumentation dafür den verurteilenden Richter trifft und Kirsten Ettmeiers Sohn, bittet die Moderatorin danach ein weiteres Opfer zur Talkrunde und Heribert Prantl hinzu, selber Volljurist und Rechtsexperte der „Süddeutschen Zeitung“.

Erhellend, empathisch und ausgewogen

Das ist erhellend, empathisch, ausgewogen und sorgsam inszeniert. Zum Glück jedoch verharrt die Reihe nicht bei der leidigen Schuldfrage, deren Klärung nur dann keine Wunden neu aufreißt, wenn sie abschließend geklärt würde – in 45 Minuten Sendezeit nahezu unmöglich. Auch beim anschließenden Fall von Eschede wird zwar darüber diskutiert, ob die Bahn den Bruch eines defekten Radreifens hätte verhindern können. Weil die Hinterbliebenen und Opfer allerdings 20 Jahre lang vergeblich auf eine Entschuldigung wechselnder Bahn-Chefs gewartet hatten, kümmern sich die Autoren Inga Mathwig und Hans Jakob Rausch vor allem um den Schmerz der Hinterbliebenen, bevor Anja Reschke mit Margot Käßmann das Thema Frieden bespricht.

Bei dieser Gratwanderung zwischen Archiv und Analyse, Zeitzeugen und Bildsprache, entwickelt „Die Narbe“ etwas, das selten ist im historytainmentsüchtigen Eventfernsehen: Besinnung. Den Rettungskräften von Eschede dabei zuzusehen, wie sie noch vor Ort am Leid zu zerbrechen drohen, während einer davon in aller Ruhe schildert, wie sein altes Leben weiterging; den Überlebenden von Ramstein dabei zuzusehen, wie sie im Chaos der Absturzkatastrophe von 1988 herumirren, während einer davon in aller Ruhe schildert, wie sein altes Leben endete – das ist von einer dezenten Dringlichkeit, die RTL mit eimerweise Klavierkleister melodramatisieren würde.

Sogar mit Raum für Besinnung

Auch hier fliegt zwar bisweilen ein dürrer Gitarrenteppich über den Unglücksort. Ansonsten aber halten sich die Autoren ähnlich zurück wie Reschke im anschließenden Gespräch mit dem damaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel, und Opfer-Betreuer Hartmut Jatzko. Gemeinsam halten sie uns vor Augen, was für die Moderatorin im Fokus ihrer Sendung steht: „Dass wir alle jederzeit sterben können, also endlich sind.“ Und wie schnell man zum Opfer oder Täter werden kann, zum Hinterbliebenen und Traumatisierten.

Anja Reschke zum Beispiel wurde noch als Schülerin in München so schwer vom Untergang der Estonia vor 26 Jahren gezeichnet, dass sie bis heute nur sehr ungern auf Fähren fährt. Eine Kreuzfahrt, fügt sie in der „Panorama“-Redaktion am Hamburger Zoo hinzu, „käme gar nicht infrage“. Was infrage kommt, ist hingegen eine eigene, echte, nicht angehängte Talkshow, am liebsten im Zwiegespräch. Wenn sich der Podcast-Trend im Fernsehen fortsetzt: „Ich wäre bereit!“

Jan Freitag

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