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Panorama: Der richtige Dreh

Bei einem Architekturprojekt erkunden Schüler mit der Kamera das Ostkreuz – und lernen dabei Disziplin

Drei Jugendliche laufen gemeinsam einen verlassenen Weg entlang. Sie schwanken, kichern, machen Sprüche. Es ist früher Abend und vielleicht haben sie schon ein Bier getrunken. Ein Rap, aufgenommen in einem Jugendfreizeitheim, begleitet ihre Schritte. Als sie durch eine Bahnunterführung gehen, bleiben sie auf halber Strecke erschrocken stehen. Neben aufgetürmten gefüllten Tüten bewegt sich etwas. Ein Obdachloser sucht in dem Müll seinen Schlaf. Für einen Moment begegnen sich ihre Blicke.

Diese kleine Geschichte erzählt Sagvan in einem dreiminütigen Film. Gedreht hat er an einer Unterführung zum S-Bahnhof Nöldnerplatz, der „Schwarzer Weg“ genannt wird. Sagvan ist 16 Jahre alt und Schüler der Mildred-Harnack-Gesamtschule in Lichtenberg. Sein Film ist einer von sieben, die im Rahmen des Schulprojekts „Rund ums Ostkreuz – Architektur als Lebensraum“ vom Verein BauKultur und Schule entstanden sind. Sehr persönlich zeigen die Schüler der neunten Klassenstufe einen kleinen Ausschnitt ihrer Umwelt. Erzählt wird eine Liebesgeschichte auf einer Parkbank, andere beschäftigen sich mit Einsamkeit und Schönheit. „Ziel ist es, den Jugendlichen das Sehen und Verstehen der durch Architektur gestalteten Umwelt nahe zu bringen“, sagt die Projektleiterin Heike Wehrmann-Ernst. Die Architektin setzt sich gemeinsam mit einer Kollegin in Schulprojekten dafür ein, dass sich Schüler kritisch mit ihrem Lebensumfeld auseinander setzen. „Durch mehr Wissen über Bauprozesse und Stadtgestaltung sollen in der Bevölkerung kritische Partner für die Stadt- und Umweltplanung heranwachsen“, erklärt Wehrmann-Ernst.

Zu Beginn des Projekts wählten die Schüler nach dem Zufallsprinzip Karten aus, auf denen Architekturelemente oder Materialsorten stehen sowie Wörter, die die Umgebung, Formen der Bewegung und Wahrnehmung bezeichnen. Aus einem oder mehreren Schlüsselwörtern entwickelten sie ihre Filmidee. Gemeinsames Brainstorming, freies Assoziieren und das Basteln von Collagen halfen dabei. Sagvan hatte die Wörter „Schwanken“ und „Brücke“ ausgewählt. Daraufhin hat er die Brücken seiner Umgebung angeguckt und Fotos gemacht. „Bei Brücken musste ich sofort an Obdachlose denken, weil sie so oft darunter Schutz suchen“, sagt der 16-Jährige.

Angesiedelt ist das Projekt im Kunstunterricht, doch die Arbeit mit Film und Architektur ist interdisziplinär. Gemeinsam mit den Architektinnen und ihrer Kunstlehrerin erarbeiteten die Schüler, wie aus der Idee ein Film wird, wie man mit Bildern eine Geschichte erzählt. Der Ort der Handlung, Dialoge, alles was später im Film zu sehen sein sollte, wurde aufgeschrieben und in einem so genannten Storyboard festgehalten.

Nach der Vorbereitung und einer Einweisung in die Technik konnten die Dreharbeiten beginnen. Für Kamera, Licht, Ton und Regie waren die Schüler selbst verantwortlich. Damit sie auf der Straße ein Motiv nicht verpassen, waren schnelle Entscheidungen wichtig. Sie mussten sich ebenfalls aufeinander verlassen können, damit nicht die halbe Technik oder die Protagonisten am Drehort fehlen. Hatte ein Schüler vergessen, wie die Kamera funktioniert, gab die Projektleitung den Tipp: „Ausprobieren.“

Obwohl die Dreharbeiten im Winter liefen, als es draußen immer kalt war, waren die Schüler mit großer Ernsthaftigkeit bei der Arbeit – für die sie ihre Freizeit hergaben. Und davon haben sie auch über den Film hinaus profitiert, wie die Lehrer beobachtet haben. „Viele sind jetzt pünktlicher, Gruppenarbeiten funktionieren besser und ein Mädchen, dass sich nie traute, im Unterricht etwas zu sagen, meldet sich jetzt häufiger zu Wort", sagt die Kunstlehrerin Verena Schulte-Fischedick. Auch Michelle ist freiwillig früher aufgestanden, um für ihren Film auf dem S-Bahnhof Ostkreuz die richtigen Bilder zu erwischen. Sie hat das Treiben auf dem Bahnhof aus der Perspektive eines Babys erzählt und ist stolz auf das Ergebnis. „Gut, dass es in der Schule mehr gibt als Matheunterricht“, sagt die 16-Jährige. Und auch Sagvan findet: „Einen Film drehen ist spannender als auf dem Stuhl zu sitzen und Seiten vollzuschreiben.“ Viel draußen sein, dabei mit anderen reden zu können und selbstständig ein Projekt zu realisieren, habe ihm Spaß gemacht. Der große Arbeitsaufwand spielte keine Rolle.

„Während des halben Jahres sind die Schüler als Gruppe zusammengewachsen und selbstbewusster geworden“, sagt Architektin Wehrmann-Ernst. Auch die Schulleiterin begrüßt die Architekturprojekte. „Sie bieten tolle Möglichkeiten für die Schüler, etwas zu gestalten, auf das sie stolz sein können“, sagt Christina Reich. Sie bedauert, dass die EU-Förderung zum Ende des Jahres ausläuft. In den Projekten zeigten Schüler Interesse an der Umgebung und dass Gewalt und Null-Bock nicht ihren Alltag bestimmten. In anderen Projekten gestalten Schüler den Hof und Grünflächen der Mildred-Harnack-Schule. Achtklässler haben vier Entwürfe zur Gestaltung einer Turnhalle fertig gestellt. Der Wettbewerbsgewinner wird umgesetzt. Auch die Architekturarbeiten sollen nicht umsonst gewesen sein. Die Architektinnen wollen, dass aus den Projekten Material für den Unterricht entwickelt wird.

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