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Panorama: Der Rütli-Brief

Vor einem Jahr löste der Neuköllner Hilferuf eine Debatte über die Hauptschulen aus. Grundsätzlich geändert hat sich nicht viel

„Keine Gegenstimmen, keine Enthaltungen“ – mit diesen Worten endete der wohl berühmteste Brief der deutschen Schulgeschichte. Geschrieben wurde er vor genau einem Jahr von Petra Eggebrecht, der damals kommisarischen Leiterin der Rütli-Hauptschule. Am 28. Februar 2006 legte sie ihn zur Verabschiedung dem Kollegium vor – um sich abzusichern und um dem Schreiben mehr Gewicht zu verleihen. Darüber hinaus entschied Eggebrecht, den Brief nicht nur an die unmittelbare Vorgesetzte zu schicken, die Schulrätin, sondern ihn breiter zu streuen. Andernfalls wäre wohl die Gefahr zu groß gewesen, dass der ganze Protest wieder im Sande verlief – wie immer in den vergangenen 20 Jahren.

Und so landete der Brief bei zwölf Adressaten vom Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowski bis zum Migrationsbeauftragten Günter Piening; er trudelte im Abgeordnetenhaus ein, bei den Fraktionen der BVV Neukölln, beim Personalrat, beim Hauptschulreferenten und bei der Gewaltreferentin des Bildungssenators, im Quartiersmanagement Reuterplatz, beim Volksbildungsstadtrat, beim Schulpsychologen, der Jugendhilfe-Leiterin.

Eine durchgreifende Reaktion blieb aus. Und zwar nicht, weil die Angeschriebenen starr vor Schreck gewesen wären. Im Gegenteil. Die beschriebenen Missstände waren den Fachleuten zum Großteil seit Jahren bekannt. Der Brief war eher lästig, weil er an ungelöste Fragen erinnerte, auf die keiner eine Antwort hatte. Deshalb wurde er erst mal nur in den Ämtern hin- und hergeschoben. Die wenigen Reaktionen und Zugeständnisse der unmittelbar Verantwortlichen waren so dürftig, dass einem der Adressaten der Kragen platzte und er das Papier Ende März an den Tagesspiegel weiterleitete.

Was den Brief von anderen Hauptschulklagen unterschied, war, dass sich das Kollegium überhaupt nicht mehr bemühte so zu tun, als habe es die Lage im Griff. „Lehrkräfte werden gar nicht mehr wahrgenommen“, hieß es da. Auch andere Sätze haben sich eingeprägt: „Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen/innen gehen nur noch mit dem Handy in die Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können.“ Gleichzeitig bemühte sich Petra Eggebrecht, auch die Schülerperspektive zu zeigen: „ Welchen Sinn macht es“, fragte sie, „dass in einer Schule alle Schüler versammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven gezeigt bekommen, um ihr Leben sinnvoll gestalten zu können. Die Schüler sind vor allem damit beschäftigt, sich das neueste Handy zu organisieren, ihr Outfit so zu gestalten, dass sie nicht verlacht werden, damit sie dazugehören. Schule ist auch Machtkampf um Anerkennung. Der Intensivtäter wird zum Vorbild. Es gibt für sie keine positiven Vorbilder.“ Und dann wendet sich der Brief noch ins Grundsätzliche: „Perspektivisch muss die Hauptschule in dieser Zusammensetzung aufgelöst werden zugunsten einer neuen Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung.“ Áls ersten Schritt aber forderte das Kollegium, zumindest den Anteil der schwierigsten, der arabischen Schülerklientel zu verringern, der damals bei einem Drittel lag.

Brigitte Pick, die langjährige Leiterin der Schule, die damals bereits lange krank geschrieben war und sich von ihrem Kollegium längst entfremdet hatte, fand den Brief falsch. Obwohl sie Petra Eggebrecht schon aus der eigenen Schulzeit kannte, obwohl beide all die Jahre bei „Rütli“ ausgehalten hatten, obwohl sie die kritische Meinung zum System „Hauptschule“ teilten, gab es eine verschiedene Sicht der Dinge. Brigitte Pick tendierte dazu, die Pägagogen selbst für ihre verzweifelte Lage verantwortlich zu machen. Das lag Petra Eggebrecht fern. Sie wollte das Leiden der Lehrer und letztlich auch der Schüler nicht mehr länger mit ansehen. Eggebrecht war als kommissarische Leiterin eingesetzt worden, weil Pick krank war und weil es auch keinen Stellvertreter mehr gab.

Mit dem Abstand eines Jahres kann man sagen, dass Eggebrechts Brief vieles bewegt hat. Sie verhalf nicht nur ihrer Schule zu neuen Lehrern und zu dem jungen Schulleiter Aleksander Dzembritzki, der sich jetzt redlich bemüht, die Schule „in ruhiges Fahrwasser zu bringen“. Sie verhalf indirekt auch Neuköllns Schulen zu dem lang ersehnten engagierten Schulrat in der Person Helmut Hochschilds, der ohne den Posten als Rütli-Interimsleiter vielleicht immer noch seine alte Schule in Reinickendorf leiten würde.

Vor allem aber brachte Eggebrecht mit ihrem Brief wieder Bewegung in die Hauptschuldebatte, die nach Pisa schon fast zum Erliegen gekommen war: Ohne den Rütli-Schock hätte Bundespräsident Horst Köhler kaum entschieden, seine Bildungsrede in einer Neuköllner Hauptschule zu halten und mit mahnenden Worten auf die Perspektivlosigkeit der Berliner Hauptschüler hinzuweisen.

Der große Durchbruch ist aber auch nach einem Jahr noch nicht erfolgt: SPD und Linkspartei kümmerten sich in ihrer Koalitionsvereinbarung nur nebenbei um das Hauptschulthema und setzen ansonsten darauf, dass die geplante Gemeinschaftsschule das Problem der „Restschule“ überflüssig machen wird.

In der Masse der Hauptschulen hat sich auch nicht so vieles geändert. Zwar verfügen sie jetzt alle über Sozialarbeiter. Das aber hatte der damalige Bildungssenator Klaus Böger (SPD) schon vor der Rütli-Debatte veranlasst. Ansonsten gibt es – wie schon vor „Rütli“ – gut 20 Hauptschulen, an den man noch etwas lernen kann, und knapp 40, die eine „außerordentlich schädliche Auswirkung auf die Leistungsentwicklung von Jugendlichen haben“, wie die Pisa-Bildungsforscher im Oktober 2006 mitteilten.

Die Rütli-Schule könnte sich bei langem Atem des Dzembritzki-Teams in die Liga derer vorarbeiten, die den Jugendlichen etwas Positives mitgeben. Gute Ansätze wie das Projekt „Rütli-Wear“ und die Rütli-Band gibt es. Wenn jetzt auch noch eine engere Kooperation mit der benachbarten Realschule hinzukäme, ein Mittagstisch und ein verlässliches Nachmittagsangebot, wäre man noch weiter.

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