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Panorama: Erzähler der Dämmerungen: Ein düsteres Dekamerone als Debüt des katalanischen Autors Miquel de Palol

Kaum ist das erste Viertel des 21. Jahrhunderts erreicht, schon droht Europa in den Verwüstungen des Dritten Weltkrieges unterzugehen.

Kaum ist das erste Viertel des 21. Jahrhunderts erreicht, schon droht Europa in den Verwüstungen des Dritten Weltkrieges unterzugehen. Paris, scheint es, existiert nicht mehr, in Barcelona herrscht Chaos. Einem Bewohner gelingt die Flucht zu einem in den Pyrenäen versteckten Anwesen, wo sich eine Handvoll Privilegierter der katalanischen Oberschicht in Sicherheit gebracht hat. Dort warten sie in luxuriöser Umgebung und bei opulenten Mahlzeiten auf das Ende des Krieges. Und da man gerade nichts besseres zu tun hat, vertreibt man sich die Zeit mit Geschichtenerzählen - wie im Dekamerone. Abenteuerliches und Dramatisches wird erzählt, Erotisches und Skurriles, Kriminal- und Spionagegeschichten.

Zunächst befremdet von der Sorglosigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Krieg, findet sich der Neuankömmling bald in den Bann der Erzählungen gezogen. Immer deutlicher sinnt sich in sieben Tagen für die zunächst zusammenhanglosen Geschichten ein gemeinsamer Faden zusammen: die Rekonstruktion der Geschichte des mächtigen Bankhauses Mir. Es geht um eine geheimnisumwitterte, mit Fragezeichen bezeichnete Person und ein Juwel, das seinem Besitzer unbegrenzte Macht verleihen soll. Dieses Juwel ist verschwunden.

"Im Garten der sieben Dämmerungen" war das erste Prosawerk Miquel de Palols und erschien im Original bereits vor zehn Jahren. Vorher hatte sich der 1953 geborene Katalane, seit seinem Debüt Liebling der heimischen wie spanischen Kritiker, fast ausschließlich der Lyrik gewidmet. Sein Erstling hat unbestreitbar monumentale Dimensionen. Palol wechselt nicht nur fabulierend zwischen den Gattungen, er spart auch nicht mit Allegorien, mythologischen Anspielungen und kulturellen Bezügen. Seine Figuren läßt er die Erzählpausen mit Vorliebe für kleine Unterhaltungen nutzen, in denen die großen Probleme der Menschheit diskutiert werden. Nebenbei zeichnet der Autor ein recht düsteres Bild der Vergangenheit, die nichts anderes als das gegenwärtige Jahrhundert ist. Der ständige Wechsel und das Verschieben von Perspektiven- und Zeitebenen ist dabei so reizvoll wie konzentrationsfordernd. Zunächst geht es nur darum, die Erzählstränge zu entwirren. Dankenswerterweise hat der Autor dem Leser den Protagonisten zur Seite gestellt. Der verliert beizeiten auch den Faden und versucht, das Gehörte resümierend und reflektierend, sich wieder Klarheit zu verschaffen. Schließlich verflechten sich Wirklichkeit und Täuschung, Wahrheit und Lügen zu einem schier undurchschaubaren Netz. Das Juwel ist kein Juwel, die Personen nicht die, die sie zu sein schienen, und selbst der Protagonist muß an seiner Identität zweifeln. Wenn ein Roman so offensichtlich den Anspruch nach Totalität verfolgt, kann sich das leicht im Übertriebenen verlieren. Oder aber es wird ein ganz großes Buch. "Im Garten der sieben Dämmerungen" ist ein ganz großes Buch - auch, weil Miquel de Palol sich im traditionellen Erzählen eine gewisse Selbstironie bewahrt.

Jennifer Wilton

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