Familienbeziehungen: Gekommen, um zu leiden
Daheim ist die Welt noch in Ordnung. Oder nicht? Warum ein Besuch bei den Eltern ernüchternd sein kann Manche Dinge ändern sich nie: Abendbrot gibt’s um halb neun
Wenn man hier ist, möchte man nach Hause und wenn man dort ist, will man nur noch weg: Dieses Gefühl kennt jeder, der zum Studieren oder Arbeiten in einer anderen Stadt lebt. Mit einem Anflug von Sehnsucht klickt man sich durch mitfahrgelegenheit.de und Konsorten, auf der Suche nach einer günstigen Verbindung. Wenn dann auch noch ein passender Anlass ansteht, ist das Ticket schnell gebucht und es geht ab in die Heimatstadt. Ist ja auch schon viel zu lange her.
Wer wegzieht, tut das in der Regel aus Überzeugung. Nur in die eigene Wohnung um die Ecke oder in eine WG im benachbarten Stadtteil zu ziehen, reicht nicht. Man möchte schon richtig raus aus dem Nest, außer Sichtweite sein. Und dann geht’s plötzlich los, man hat seinen eigenen Haushalt, muss Getränkekästen raufschleppen, überraschend häufig staubsaugen und sich selber mit Handwerkern herumschlagen, wenn die Heizung wieder mal nicht funktioniert. Schnell stellt man fest, dass geplatzte Glühbirnen sich nicht selbst wechseln und dass dieses Putzen und Aufräumen auf Dauer richtig nerven kann.
Doch den Preis ist man gerne bereit zu zahlen, denn endlich ist man sein eigener Herr. Mit Schuhen durch die Wohnung zu laufen zieht kein Donnerwetter mehr nach sich, gegessen wird, wann man will, was man will und die Wände werden je nach Lust und Laune mal rosa oder schwarz gestrichen. Hat man heute keine Lust zu wischen, macht man’s morgen oder eben nächste Woche, egal. Man hat jetzt einen eigenen Rhythmus, eigene Routinen. Wegzuziehen eröffnet einem unzählige Freiheiten, die man in vollen Zügen genießt und an die man sich schnell gewöhnt. Umso schwerer wird es, sich auf einmal wieder unterordnen zu müssen. Und das bedenkt man meist nicht, bevor man die Reise nach Hause antritt.
Natürlich freut man sich, die Familie wiederzusehen, sich bekochen zu lassen und die schmutzigen Klamotten einfach in den Wäschekorb zu werfen. Man hat endlich mal Zeit, mit den Geschwistern abzuhängen und sein altes Kinderzimmer zu inspizieren, in dem all die Erinnerungen herumgeistern: Schubladen voll wohlbehüteter Briefe sowie Geburtstagskarten, an den Wänden Fotos von Freunden und Poster von Bands, die man heute peinlich findet. Zuhause ist wie Hola beim Fangen, ist gleich Sinnbild von besseren Zeiten; von Kindheitstagen, als alles noch einfach war und man ohne Sorgen in den Tag hinein leben konnte.
Denkste. Die Wahrheit sieht dann immer ein wenig anders aus. Statt gemütlich zu kochen, wird zur Feier des Wiedersehens Essen gegangen, die Brüder gehen kicken oder sind übers Wochenende verreist und über die Schmutzwäsche werden wider Erwarten keine Freudentänze aufgeführt. Das Kinderzimmer ist renoviert und zum Gästezimmer geworden, persönliche Wertsachen wurden fein säuberlich in Kartons geräumt. Was allerdings unterm Teppich hervorgekehrt wird, sind Sorgen, finanzielle oder zwischenmenschliche Probleme der Familie. Es werden plötzlich Dinge angesprochen, die vorher „Erwachsenenkram“ waren und Bauchschmerzen bereiten. Doch inzwischen hat man ja ein Alter erreicht, in dem man auch über ernste Sachen sprechen möchte. Oder etwa nicht?
Man ist nicht sichtbar schockiert, immerhin wollte man es doch so. Man wollte ja groß sein, Verantwortung übernehmen und als gleichberechtigter Erwachsener behandelt werden. Nicht immer Rechenschaft ablegen über alles, was man tut oder nicht tut, nicht immer erreichbar sein. Doch während man sich ausgeklinkt hat, lief die Zeit weiter, auch wenn man das nicht gerne wahrhaben will.
Wer länger nicht zu Hause war, stellt verschiedene Veränderungen fest. Die Sitzecke im Wohnzimmer ist umgestellt, das abgenutzte und doch so bequeme Sofa ist ersetzt worden und der Teppich im Eingang ist auf einmal beige und nicht mehr hellblau. Die Geschwister sind nicht mehr ständig zu Hause, sie gehen mit Freunden weg oder ziehen selbst aus. Und Papa hat plötzlich mehr graue Haare als noch vor ein paar Monaten.
Aber man ist ja nicht blöd, wirklich überraschend sind solche Entwicklungen nicht, schließlich hat man sich auch verändert. Seit man nicht mehr bei den Eltern wohnt, kann man seine Eigenschaft als Morgenmuffel frei ausleben und braucht nach dem Aufstehen keine gezwungenen Gespräche mehr führen. So hat man es sich angewöhnt, den Morgenkaffee im Bett zu trinken. Oder gelegentlich mal ein Räucherstäbchen anzuzünden. Oder abends laut Musik zu hören.
Bei den Eltern hingegen gelten gewisse Regeln, an die man sich zu halten hat. So kann man seine Jacke beim Reinkommen nicht unbedacht über die Couchlehne schmeißen. Oder den Fernseher den ganzen Tag laufen lassen. Oder kommen und gehen, wann man will. Gegessen wird um halb neun und nicht erst, wenn der Hunger kommt – wenn man selbst nicht kommt, muss man sich rechtzeitig vorher abmelden. Überhaupt muss man sich öfter mal unterordnen oder hinten anstellen, wie vorm Badezimmer, wenn die Dusche besetzt ist, hier wohnt man eben nicht alleine. „Ätzend“ findet man das dann, oder „anstrengend“. Und dann meldet sich wieder die Sehnsucht, diesmal aber nach dem neuen Zuhause. Man will weg, dorthin, wo nicht alles in geregelten Bahnen laufen muss und von Gewohnheiten bestimmt ist.
Aber so ganz richtig ist das nicht. In der eigenen Bude hat man genauso Rituale, etwa mittwochabends, wenn Pizza bestellt unter allen Umständen ProSieben geguckt wird. Die morgendliche eiskalte Stunde des Durchlüftens sowie die vielen Post-its, die am Kühlschrank kleben bleiben, obwohl die Notizen längst nicht mehr aktuell sind. Man hat eben so seine Spleens und würde es sicherlich nicht begrüßen, wenn der kleine Bruder kommt und von „Grey’s Anatomy“ zum Sportkanal umschaltet.
Es geht doch vor allem um die Erwartungen, mit denen man nach Hause zu den Eltern fährt. Man bedenke: Mit den (Narren-)Freiheiten, die man als Kind hatte, ist es vorbei. Wer sich für die seltenen Besuche also vornimmt, die elterlichen Regeln einzuhalten, kann es zu Hause auch ganz gut aushalten. Wenn auch nur für ein paar Tage.
Laura Pomer