Panorama: Im Bann des großen Sturms
Mit bis zu 191 km/h raste „Kyrill“ über Deutschland – die frühe Warnung verhinderte das Schlimmste
Viele Menschen machten sich schon am morgen Sorgen, ob sie nachmittags rechtzeitig nach Hause kommen, viele aber auch machten Witze über den groß angekündigten Sturm. „Kommt der denn überhaupt noch?“, fragten sie mittags. Am Nachmittag dann war es vorbei mit witzelnden Arbeitskollegen.
Der angekündigte Sturm kam mit Wucht.
Gottfried Glenke war der Einzige, der auf dem Gipfel des Brocken die Stellung hielt. Die Behörden hatten den Berg und das Hotel evakuieren lassen. Alle Mitarbeiter des Hotels und auch der Pächter mussten gehen. Die Straße auf den Brocken wurde gesperrt. Gottfried Glenke saß ganz alleine da oben und schaute aus dem Fenster. „Nebel, nichts als Nebel“, sagte er. „Ich sehe nichts.“ Mit 191 Kilometern in der Stunde umtoste der Sturm seine Wetterwarte auf dem Gipfel. Das zeigten seine Geräte an. Hat er Angst, dass der Orkan die Wetterwarte wegweht? „Nein“, lacht er, „das ist hier extra ausgelegt, Dreifachverglasung“.
Ein bisschen Angst bekam Gottfried Glenke dann aber doch. Als er seine sichere Warte verlassen musste, um persönlich im Freien die Regenmenge zu messen, die seine Vorrichtung aufgefangen hat. „Da muss man schon vorsichtig sein, wenn man bei einem Orkan ins Freie geht.“
24 Stunden muss Glenke da oben bleiben, bevor die Ablösung kommt. Wenn sie denn kommt. Und er darf nicht einschlafen. Die ganze Zeit über muss er berichten, wie das Wetter da oben ist. Dafür ist der Mann da.
Die Meteorologen hatten seit Tagen vor dem Sturm gewarnt. Fast könnte man meinen, in der deutschen Medienberichterstattung kehrten amerikanische Verhältnisse ein. In den USA berichten Zeitungen und Fernsehstationen ebenfalls bereits mehrere Tage vor einem erwarteten Sturm groß über das Ereignis, um die Menschen zu warnen.
Vielleicht ist auch die ausführliche Berichterstattung in Deutschland der Grund, warum vergleichsweise wenig passierte. 1999 forderte „Lothar“ 13 Todesopfer, weil nicht rechtzeitig gewarnt worden war.
Dennoch forderte auch „Kyrill“ Opfer. In Baden-Württemberg wurde ein Mann getötet, als er gegen einen umgestürzten Baum fuhr. Aus England wurden zwei Todesopfer gemeldet, ebenfalls Autofahrer, die von umfallenden Bäumen getroffen wurden.
Auf der Bahnstrecke von Hamburg nach Westerland auf Sylt ist am Donnerstag ein Intercityzug gegen einen umgefallenen Baum geprallt. Bei dem Unfall sei jedoch nur Sachschaden entstanden und zum Glück niemand verletzt worden, sagte ein Bundespolizeisprecher in Flensburg. Der Baum war zwischen den Ortschaften Burg und Wilster durch den Sturm auf die Gleise gestürzt. Kurz vor 14 Uhr fuhr dann der Intercity gegen das Hindernis. Dabei wurde eine der beiden Loks beschädigt. Sie musste abgekoppelt werden, der Zug fuhr mit nur einem Triebfahrzeug weiter. Die Strecke musste für gut eine Stunde gesperrt werden, während Feuerwehrkräfte den Baum beseitigten. Der Zug konnte mit einer Dreiviertelstunde Verspätung seine Fahrt fortsetzen. Die Deutsche Bahn hatte wegen der orkanartigen Böen die Geschwindigkeit der Züge vorsorglich reduziert. Auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken des Fernverkehrs fuhren die ICE mit maximal 200 Stundenkilometern. Im Nahverkehr seien die Züge mit höchstens 140 Stundenkilometern unterwegs gewesen, auf der Strecke Nürnberg–Ingolstadt–München mit Tempo 160. Die Neigetechnik bei Nahverkehrszügen wurde abgeschaltet. Aufgrund der verringerten Geschwindigkeit und Sturmschäden mussten Fahrgäste mit längeren Fahrzeiten rechnen. Die Mitarbeiter der Instandhaltung seien bundesweit in erhöhter Alarmbereitschaft gewesen.
Im Luftverkehr sorgte der Orkan bereits in den Vormittagsstunden für Chaos. Die Deutsche Flugsicherung (DFS) hatte zur Vorbereitung bereits am Morgen die Sicherheitsabstände zwischen den einzelnen Maschinen erhöht. Auf dem Frankfurter Rhein-Main-Flughafen wurde die Zahl der üblichen Starts und Landungen zeitweilig halbiert. Bis zum Mittag waren allein hier schon 78 Flüge gestrichen worden. Viele andere hatten laut Airport-Sprecher Wolfgang Schwalm über eine Stunde Verspätung. Der Flughafen selbst habe keine besonderen Vorkehrungen getroffen. „Wir sind ständig auf alle Eventualitäten vorbereitet.“
Kapazitätsabsenkungen und daraus resultierende Verspätungen gab es auch an den Flughäfen Berlin-Tegel, München und Hamburg. In Erwartung des Extremsturms sei es unumgänglich gewesen, das Verkehrsaufkommen bereits im Vorfeld zu reduzieren, sagte DFS- Sprecherin Anja Tomic. Eine eigens eingesetzte Arbeitsgruppe analysierte die Lage permanent und gab stündliche Änderungen vor.
Alleine die Lufthansa hatte nach Angaben ihres Sprechers Michael Lamberty bis zum Mittag europaweit 74 Flüge streichen und ansonsten mit zum Teil erheblichen Verspätungen kämpfen müssen. Neben der größeren Staffelung der Maschinen sorgte zum Teil starker Gegenwind für längere Flugzeiten. Bei Air Berlin lief der Flugbetrieb dagegen normal.
Fliegerisch seit der Orkan „kein Sicherheitsthema“, sagte Lamberty. Die kritische Komponente bei Start und Landung ist ein möglicher Seitenwind, der eine Geschwindigkeit von 54 Stundenkilometern nicht überschreiten darf. Bei höheren Windstärken müssen die Maschinen am Boden bleiben oder zur Landung einen Ausweichflughafen ansteuern.