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Panorama: "Letzte Stunde des Nachmittags": Der zeitgemäße Krokodilsblick

Was verraten Gesten, kleine Handlungen, Verlegenheitsbewegungen über einen Menschen? Was erfahre ich über ihn, wenn mir kein Erzähler zur Seite steht, der die Figur interpretiert oder mir darüber Aufschluss gibt, welche Gedanken sie bewegen und welche Gefühle sie zu verbergen trachtet?

Was verraten Gesten, kleine Handlungen, Verlegenheitsbewegungen über einen Menschen? Was erfahre ich über ihn, wenn mir kein Erzähler zur Seite steht, der die Figur interpretiert oder mir darüber Aufschluss gibt, welche Gedanken sie bewegen und welche Gefühle sie zu verbergen trachtet? Und was mache ich nur, wenn der Erzähler alles daransetzt, eine literarische Figur mit einer Aura auszustatten, aber kein bisschen gewillt ist, ihr Geheimnis zu lüften?

Solveig Anderson ist solch eine Figur. Sie ist eine Frau ohne Geschichte, bleibt ganz Gegenwart, sperrt jede Erinnerung aus. Vielleicht, dass sie dann und wann ein Traum einholt, der aus der Tiefe der Geschichte in ihre Gegenwart dringt. Sie steht als Fremdkörper im Raum, ihre Reaktionen sind nicht absehbar, ihre Taten nicht kalkulierbar. Sie bleibt abgeschottet durch einen Erzähler, der nicht den geringsten Aufwand daran setzt, die Figur zu erklären. Er stellt sie hinter eine Glaswand, wo sie nach Belieben agieren darf, ohne dass sie irgendwelchen Prinzipien unterworfen wird.

So sieht der Angriff auf den psychologischen Roman aus, der ja als stolzes Produkt der Aufklärung auch immer ein bisschen naseweis ist. Nichts ist ihm fremd. Keine menschliche Leidenschaft, keine Verirrung, für die es nicht eine Erklärung gibt. Im psychologischen Roman gibt jede Abweichung einer Figur von der Norm Sinn. Dann darf ein gewiefter Autor seinen Spürsinn unter Beweis stellen, plausibel machen, was im Innersten einer Person vorgeht. Der Mensch mag zwar erschreckend in seinen zerstörerischen Energien sein, aber letztlich gibt es einen Plan, nach dem er funktioniert. Und als Leser kann man durchatmen, weil man sich im sicheren Gefühl wiegen darf, unter dem Schutz des Erzählers nicht verloren zu gehen. In einer verrückten Welt wirkt selbst im Chaos noch der Hall einer Ordnung nach.

Bei Hans Löffler ist alles anders. Er kommt uns mit dem Krokodilsblick, kalt, ungerührt, völlig uninteressiert daran, für das Verhalten von Menschen Motive mitzuliefern. Damit setzt er sie einem Schrecken aus, der durch nichts zu relativieren ist. Es liegt ihm fern, eine Person zu entlasten, indem er sie einbettet in eine Biographie, die das Verhalten nachträglich verständlich macht. Solveig Anderson steht da mit einer Macht ihrer Präsenz, die keine Gegenwehr duldet. Sie ist die reine Gegenwart, alles was geschieht, ereignet sich gegen jede Vernunft. Die Radikalität Hans Löfflers besteht darin, dass seine Figur jenseits konventioneller Logik ihr Unwesen treibt. Sie ist eine abweisende Gestalt, zieht sich zurück, verweigert sich der Nähe zu anderen und verführt Menschen, die alsbald in ihren Bann geraten. Sie lässt töten aus einer spontanen Reaktion heraus, und keiner ahnt, woran er ist. Sie kennt keine Moral, agiert selbstbewusst und selbstherrlich. Sie legt sich und anderen gegenüber niemals Rechenschaft ab. Alles was sie tut, entspringt der Laune des Augenblicks, genügt dem Bedürfnis des ins Monomanische gesteigerten Ich.

Wie es dazu kommt, bleibt verborgen. So kippt der Autor die Grundlagen des psychologischen Romans und stellt eine Figur in den Raum, an der alle Versuche, sie ins Verständliche zu heben, scheitern. In welchem Raum bewegt sich dieses Gefühlskrokodil? Solveig Anderson sucht die Weite, die Grenzenlosigkeit womöglich. Sie lebt im 48. Stockwerk eines Hochhauses, blickt über die Niedrigkeiten des Alltags hinweg. Und sie fährt ans Meer, sucht den offenen Raum, wird ausgesetzt auf dem offenen Meer, wo sie die Enge endgültig hinter sich lässt. Diese geheimnisvolle Frau setzt sich selber als Mittelpunkt in den Raum, deshalb ist sie auf andere nicht angewiesen, ja empfindet sie gar als störend. Sie verletzt und lockt, macht kaputt, was ihr Angst einjagt. Sie ist Mittelpunkt und Einzelwesen.

Anderen begegnet sie mit Misstrauen, Scheu und Abwehr. Sie zerstört, bevor sie selbst durch Versuche, vereinnahmt zu werden, zerstört wird. Dieser offene Raum, in dem sie agiert, entspricht der Darstellung der Figur in diesem Roman. Es gibt keine Instanz, die es wagen würde, die Seele dieser Frau zu vermessen. Der Erzähler belässt es bei der Wildnis. Aber diese nimmt er sich genau unter die Lupe. Wenn er schon keinen Hinweis darauf abliefert, was in diesem Kopf wohl vorgehen mag, so bewahrt er sich einen unbestechlichen Blick. Kleinste Bewegungen, Verkrampfungen der Finger, verzögerte, verlangsamte Reaktionen werden registriert. Sie zeigen eine Frau, die nicht ganz von dieser Welt ist, die sich weit weg von den Ansiedlungen der Menschen ein Privatreich geschaffen hat. Das macht sie unberührbar. "Sie legt den Spiegel weg, auf ihre Beine, spürt den samtenen Druck der Seide des Morgenmantels unter dem kleinen, ovalen Gebilde, allein, auf ihren Oberschenkeln. Sie blickt in die einsame Kerzenflamme. Und schließt die Augen."

Details werden vergrößert, Einzelheiten werden aus einem Kontinuum herausgeschnitten, sie sind das sichtbare Zeugnis einer Figur, für die nie um Verständnis geworben wird. Mehr haben wir nicht von dieser Person als diese Oberfläche. Das ist ein unsäglich kalter Roman. Deshalb wirkt der Schluss, der eine Art happy end simuliert, seltsam deplatziert. Warum sollte diese Frau mit dem Killer-Instinkt vor Glück zergehen, wen sie einen alten Griesgram, "Chefarzt an einer riesigen Klinik", heiratet? "Der ist ein Mann, wie es sie eigentlich nur früher, zu anderen Zeiten einmal gab." Und dann kichert und strahlt Solveig Anderson gerade so, als ob sie Ambitionen hätte, sich in einem Trivialroman bewähren zu müssen.

Aber Vorsicht! Ist das nicht vielleicht der Beginn einer neuen Tragödie? Nach allem, was der Leser weiß, wozu diese Frau fähig ist, wenn jemand bei ihr das Gefühl der Nähe sucht, ist nichts Gutes zu erwarten. Meint es der Autor gut mit uns, wenn er uns den weiteren Verlauf erspart? Wahrscheinlich ist es nur kurz gedacht, wen man meint, der Autor schleicht sich mit einem billigen Ende aus einer Geschichte, die er sonst zu keinem einleuchtenden Schluss hätte bringen können. Vielleicht ist die Hochzeit die Drohung einer bevorstehenden Katastrophe - auch diese Ahnung gehört zu diesem bemerkenswerten Roman.

Anton Thuswaldner

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