zum Hauptinhalt

Genitalverstümmelung: "Wir sind keine Barbaren"

Helens Geschichte ist die eines kleinen Mädchens, das mit vier Jahren beschnitten wird. Es ist auch die Geschichte einer Jugendlichen, die körperlich und seelisch sehr unter der Genitalverstümmelung leidet.

Tübingen - Aber: Die Geschichte eines Opfers ist es nicht. Darauf legt die heute 27-Jährige Wert: "Ich bin eine gereifte, glückliche Frau. Aber das hat mich viel Kraft gekostet." In Deutschland leben der Tübinger Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes (TdF) zufolge 19.000 Frauen, die an den Genitalien verstümmelt wurden. Bis zu 6000 Mädchen seien gefährdet, sagt Referentin Franziska Gruber. "Das betrifft in erste Linie Migrantinnen aus manchen afrikanischen Ländern."

Das Ausmaß der Verletzungen reicht vom Einstechen oder Einritzen der Klitoris-Vorhaut bis zur so genannten Infibulation. Dabei werden die inneren und zum Teil die äußeren Schamlippen entfernt, anschließend werden die Frauen zugenäht. TdF zufolge mussten 15 Prozent der Betroffenen weltweit diese grausamste Form der Beschneidung ertragen - häufig mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen, nicht zuletzt wegen teils miserabler hygienischer Bedingungen.

Eingriff in der afrikanischen Heimat

Helen, die in Süddeutschland lebt und ihren echten Namen nicht nennen möchte, spricht nicht über Details ihrer Beschneidung. Sie sei von der mildesten Form betroffen. An den Eingriff in ihrer afrikanischen Heimat habe sie keine Erinnerungen, erzählt sie. Als Jugendliche habe sie gemerkt, "dass bei mir etwas anders ist." Von älteren Freundinnen und ihren Eltern habe sie die Hintergründe erfahren. "Ich habe mit meiner Mutter und meinem Vater offen darüber gesprochen. Sie finden das jetzt auch nicht richtig, aber sie sind in einer anderen Kultur aufgewachsen." Ihren Eltern gegenüber empfinde sie keinen Zorn. Helen betont, dass viele Afrikaner Beschneidungen ablehnten. "Wir sind keine Barbaren."

Genitalverstümmelungen würden auch heute noch mit der Tradition oder vermeintlichen religiösen Vorgaben begründet, sagt TdF-Expertin Gruber. "Dabei geht es auch um ein Schönheitsideal." Weibliche Genitalien würden als schmutzig und hässlich angesehen. In einer Unterrichtsmappe zum Thema, die Lehrer bei TdF anfordern können, wird der Bogen zu westlichen Schönheitsidealen gespannt, die von vielen Frauen ebenfalls ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit befolgt würden - was sich zum Beispiel durch Fälle von Magersucht zeige.

Aufklärungsbedarf besteht weiterhin

Trotz aller Unterschiede gehe es darum, das Verständnis für die Hintergründe von Genitalverstümmelungen zu vermitteln, sagt Gruber. Die Ausgangssituation dafür sei gut: Unter anderem durch einige populäre Biografien von beschnittenen Frauen, gebe es ein großes Interesse an dem Thema. TdF erreichten täglich bis zu fünf Email- Anfragen von interessierten deutschen Schülern.

Aufklärungsbedarf gebe es weiterhin, sagt Helen. "Mit 19 bin ich zum ersten Mal zu einer Frauenärztin gegangen, die war total geschockt." Wegen der Beschneidung hatte sich eine Zyste (Geschwulst) gebildet. Die Gynäkologin habe nicht gewusst, wie sie reagieren sollte. Erst der Arzt in einem Krankenhaus habe mit ihr offen über die Beschneidung gesprochen.

Auch Helen hat lange gebraucht, bis sie wusste, wie sie mit ihrem Körper umgehen soll. Vor zwei Jahren verliebte sie sich in einen Mann und erzählte ihm von der Beschneidung. Er reagierte mit Verständnis, es entwickelte sich eine Beziehung. "Ich hatte Komplexe. Ich habe mich gefragt, bin ich überhaupt genug für einen Mann, bin ich eine vollkommene Frau", erzählt Helen. Heute beantwortet sie diese einst quälenden Fragen für sich mit "Ja". Konsequent meidet sie das Wort "Verstümmelung". Eines stellt sie klar: "Ich wehre mich gegen das Wort, die Tradition muss aber unbedingt aufhören." (Von Stefan Waschatz, dpa)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false