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Hanno Sauer

© dpa/Christian Charisius

Philosoph Hanno Sauer im Gespräch: „Es wird nie eine klassenlose Gesellschaft entstehen“

Läuft der Sozialstaat ins Leere? Bestseller-Autor Hanno Sauer seziert das Phänomen Status – und findet, den Menschen bleibt wenig anderes übrig, als mit den Unterschieden zu leben.

Von Hans Monath

Stand:

Herr Sauer, gab es im christlichen Paradies schon Klassen?
Es ist schon vielsagend, dass es im Paradies keine Klassenhierarchien gibt. Das zeigt, wie attraktiv wir Menschen einen solchen Zustand finden. Wir wollen eigentlich nicht in einer Gesellschaft leben, in der extreme Ungleichheit herrscht. Das zeigt sich auch in anderen kollektiven Erzählungen über den utopischen Ort, an dem wir leben möchten. Auch das Schlaraffenland ist ja kein Reich, in dem es extreme Unterschiede gibt. Dort leben alle ohne Unterschied im Überfluss. Und das Paradies hat ja einen entscheidenden Makel: Es existiert nicht.

Sie weisen in Ihrem Buch „Klasse. Die Entstehung von Oben und Unten“ darauf hin, dass bei unseren Vorfahren, den nomadischen Jägern und Sammlern, Statusunterschiede noch weit weniger ausgeprägt waren als heute. Warum war das so, und was ist heute anders?
In menschlichen Kleingruppen mit womöglich zwei, drei Dutzend Mitgliedern gab es in der Zeit zwischen vor zweieinhalb Millionen Jahren und vor etwa 12.000 Jahren schon Prestigehierarchien, der Gruppe gehörte ein Mensch an, der am besten jagen konnte, einer, der am besten Geschichten erzählen konnte, und so weiter. Aber es gab keine robusten Klassenhierarchien, die von Generation zu Generation weitergegeben worden wären.

Seit der Zeit, in der wir Menschen dazu übergingen, größere Gesellschaften zu bauen, sesshaft zu werden, Ackerbau zu betreiben und Tiere zu halten, Überschuss zu erwirtschaften, seitdem gelingt es uns überhaupt nicht mehr, irgendwo auf der Welt Gesellschaften so einzurichten, dass es kein Oben und Unten mehr gibt.

Warum wählten Sie für den Titel Ihres Buchs den Begriff „Klasse“, der mit der industriellen Revolution verbunden ist. Es gab doch schon zuvor Ordnungen von Unten und Oben, in Europa die Sklavenhaltergesellschaft der Antike, die Ständegesellschaft des Mittelalters, in Indien das Kastenwesen …
Ich wollte den Begriff „Klasse“ bewusst rehabilitieren, weil viele glauben, dass er ins 19. Jahrhundert gehöre, veraltet sei und nicht mehr zu unserer Gesellschaft passe. Ich hätte auch „Status“ oder „Prestige“ als Titel wählen können, aber „Klasse“ bringt immer noch am besten all die Phänomene zusammen, die ich beschreibe, nämlich materielle Ressourcen, soziale Herkunft, Kultur, Familie, generationenübergreifende Unterschiede.

Wenn es um Diskriminierung aufgrund solcher Merkmale geht, reden wir ja auch nicht etwa von „Prestige-ismus“, sondern von „Klassismus“.

Manchmal ist die Exklusivität das Produkt.

Hanno Sauer, Philosoph

Karl Marx und Friedrich Engels haben im 19. Jahrhundert eine klassenlose Gesellschaft vorhergesagt. Können Sie dem etwas abgewinnen?
Ich bin ein großer Fan von Karl Marx. Aber er lag in vielem einfach falsch. Marx war ja auch der Meinung, dass der Kapitalismus sein eigenes Grab schaufeln werde, indem er so viel Waren produziere, dass es irgendwann keine Knappheit und damit auch keine Klassenkämpfe mehr geben werde. Der Überfluss werde dann zwangsläufig die klassenlose Gesellschaft hervorbringen.

Das ist ein fundamental falscher Gedanke, denn die Gesellschaft selbst kann Knappheit hervorbringen. Sie ist nicht in der Natur begründet, wo etwa das Vorkommen von Gold begrenzt ist, sondern wird von den Menschen selbst geschaffen. Wohnungen in begehrten Lagen etwa sind intrinsisch knapp, denn deren Knappheit macht sie erst begehrt.


Sie weisen ja in Ihrem Buch darauf hin, dass der schöne Werbebegriff „exklusiv“ im Wortsinne schon den Ausschluss der anderen verspricht.
Manchmal ist die Exklusivität das Produkt. Es gibt etwa Dating-Apps, bei denen man sich bewerben muss. Die Knappheit der in der Community versammelten Teilnehmerinnen und Teilnehmer macht diese Dating-App besonders attraktiv.

Knappheit entsteht durch den Wettbewerb mit sogenannten „teuren Signalen“. Das kann Geld sein, das kann Bildung sein, das kann körperliche Attraktivität sein, das kann Bildung sein, Eloquenz oder Charme. Mit solchen kostspieligen Signalen nehmen wir am Statuswettbewerb teil, sie erzeugen eine soziale Rangfolge, die sich dann zu einer Klassenstruktur verhärtet.

Wohin mit ihnen? Das Marx-Engels-Forum in Berlin-Mitte soll umgestaltet werden.

© Jens Kalaene/dpa

Noch einmal zu Marx und Engels: Kann je eine klassenlose Gesellschaft entstehen?
Nein, es wird nie eine klassenlose Gesellschaft auf dieser Erde entstehen. Natürlich ist es eine schöne Fantasie, wir könnten alle zu prähistorischen Lebensformen zurückkehren. Und das ist ja in der Geschichte auch immer wieder versucht worden, Kommunen zu gründen, von den Kibbuzim bis hin zu den Hippies. Diese sozialutopischen Versuche gründen auf der gleichen Vision wie die vom Schlaraffenland und Paradies. Doch alle diese Versuche sind gescheitert.

Wenn Politiker immer wieder versprechen, soziale Gleichheit herzustellen, das aber nicht gelingt, schöpfen die Wähler irgendwann Verdacht und fühlen sich angelogen.

Philosoph Hanno Sauer

Aus welchem Grund gescheitert?
Weil sich keine sozialen Praktiken und Institutionen etablieren ließen, die das dauernde Aufbrechen von sozialen Ungleichheiten langfristig neutralisieren und abschaffen konnten. Die Menschen könnten auch die politische Entscheidung treffen, alle in die gleichen Klamotten zu stecken und jedem vorzuschreiben, wen er zu heiraten hat. Aber das halten wir für eine unzumutbare Schreckensvorstellung. Das ist in der Geschichte ja auch schon versucht worden, mit bekanntem Ergebnis.

Nur noch ein Hinweis dazu: Neue Studien zeigen, dass die Familien in China, die vor der Kulturrevolution zur Elite gehörten, auch heute wieder dazu gehören.

Worauf führen Sie das zurück?
Als Menschen können wir gar nicht anders, als bestimmte Merkmale aus eigenem Antrieb heraus für prestigeträchtig zu halten. Das wird sich nie abstellen lassen, dass wir einen Menschen, der besonders klug ist, anerkennen und hoch bewerten. Genauso wenig wie wir darüber entscheiden können, was wir sexuell attraktiv finden oder was gut schmeckt.

Neue Untersuchungen zeigen: Überall auf der Welt schreiben Gesellschaften solchen Menschen einen höheren Status zu, die sie für einen vertrauenswürdigen Kooperationspartner und für intelligent halten. Wer solche Eigenschaften nicht mitbringt, wird überall stigmatisiert.

Hanno Sauer: „Klasse. Die Entstehung von Oben und Unten“ (Piper)

© Piper

Wenn Sie die Gesellschaft der Gleichen so skeptisch sehen, reden Sie damit der Herrschaft der Stärksten und Reichsten das Wort?
Ich hoffe nicht! Ich bemühe mich ja, sehr fair und ausführlich zu erklären, warum ich zu diesem Ergebnis komme. Ich halte es aber auch für politisch sehr bedeutsam. Denn wenn Politiker immer wieder versprechen, soziale Gleichheit herzustellen, das aber nicht gelingt, schöpfen die Wähler irgendwann Verdacht und fühlen sich angelogen. Oder sie vermuten noch finsterere Mächte am Werk, die das Einlösen des Versprechens verhindern. Wenn so eine Paranoia um sich greift, erschallt bald der Ruf nach einem Autokraten, der durchgreift und das Versprechen endlich einlöst.

Es gibt keine Beispiele für eine erfolgreiche Nivellierung von Statusunterschieden, auch nicht in Skandinavien oder in den Niederlanden.

Hanno Sauer, Philosoph

Empfehlen Sie demokratischen Parteien, die dem Gleichheitsziel verpflichtet sind, mit diesem Versprechen vorsichtiger zu sein?
Erst wenn man verstanden hat, wie vertrackt dieses Problem ist, kann man vernünftig überlegen, welche politischen Hebel wirksam sind. Eine wichtige Schlussfolgerung für mich ist: Wir sollten bestimmte öffentliche Güter stärker fördern, etwa Parks, schöne Straßen, öffentliche Schwimmbäder. Denn sie stehen der gesamten Gesellschaft offen.

Nicht jeder kann sich eine Wohnung am Central Park leisten, aber jeder kann ihn besuchen und sich dort erholen. Man könnte sagen: Bestimmte Ungleichheiten werden wir nie loswerden, aber wir sollten trotzdem versuchen, eine Gesellschaft zu schaffen, in der der Mindestlebensstandard möglichst hoch ist und es gleichzeitig einen sozialen Raum gibt, der von vielen geteilt wird.

Sehen Sie denn in der Geschichte Beispiele, in denen durch politische Entscheidungen der Unterschied zwischen Oben und Unten zumindest nivelliert wurde? Man könnte an die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten denken …
Nein. Es gibt keine Beispiele für eine erfolgreiche Nivellierung von Statusunterschieden, auch nicht in Skandinavien oder in den Niederlanden. Das sind alles in Wirklichkeit Gesellschaften, die sozial schichtweise aufgebaut sind und enorme soziale Unterschiede aufweisen. Natürlich haben sie relativ gut funktionierende Sozialstaaten, und ich bin ein großer Fan des Sozialstaats. Das ist für mich aber keine Nivellierung, ich würde davon sprechen, dass das Grundniveau sehr hoch ist.

Beseitigt der Sozialstaat die Privilegien, welche in Familien über Generationen vererbt werden?
In keiner Weise tut er das, und ich kenne auch keine andere politische Ordnung, die dies tut. Der britische Wirtschaftshistoriker Gregory Clark hat 2023 in einer Studie spektakulär gezeigt, dass sich in England über die vergangenen vier Jahrhunderte hinweg nicht nur die Erblichkeit von sozialem Status und Klasse genau abbilden lässt auf die Verwandtschaftsgrade. Der Immobilienwert von zwei Personen korreliert exakt mit deren Verwandtschaftsgrad.

In der Kunst- und Kulturszene wird mit Inbrunst Vielfalt, Inklusion und Weltoffenheit gepredigt, in Wirklichkeit aber ein brutal harter Statuswettbewerb gelebt.

Philosoph Hanno Sauer

Auch der Grad der Erblichkeit ist über die vergangenen 400 Jahre konstant geblieben, trotz aller politischen Umbrüche. Das heißt: Die Schichtenzugehörigkeit von Individuen und Familie entzieht sich über viele Generationen hinweg dem Zugriff politischer Interventionen.

Laut Sozialbericht der Bundeszentrale für Politische Bildung sah die Vermögensverteilung in Deutschland 2024 so aus: Das oberste eine Prozent verfügte über 23 Prozent des Gesamtvermögens, die obersten zehn Prozent über 54 Prozent, die Mitte über 21 Prozent und die unteren 50 Prozent über zwei Prozent. Müssen wir uns damit abfinden?
Nein, es gibt ja unterschiedliche Gesellschaften, die USA sind ungleicher als Deutschland, Südafrika ungleicher als Frankreich. Allerdings kann man diese Daten auch anders deuten: Die 39 bis 40 Prozent, welche die Mitte der Gesellschaft ausmachen, sind historisch neu, die gibt es erst seit 150 Jahren. Erst das Wirtschaftswachstum hat die Mittelklasse erzeugt.

Man kann es unschön finden, aber es ist nicht neu, dass die obersten Schichten von Wachstum am meisten profitieren, die untersten am wenigsten. Aber das sind reine Einkommens- und Vermögenskategorien, zur Konstruktion sozialer Unterschiede tragen auch kulturelle Faktoren sehr stark bei.

Sie gehen in Ihrem Buch mit der Kunst- und Kulturszene hart ins Gericht. Warum?
Weil dort oft mit Inbrunst Vielfalt, Inklusion und Weltoffenheit gepredigt wird, in Wirklichkeit aber ein brutal harter Statuswettbewerb gelebt wird, in dem weniger gebildete oder kunstsinnige Menschen massiv abgewertet werden. Wer genauer hinsieht, erkennt, wie massiv die Kunst- und Kulturszene an der Produktion von elitären Statussymbolen arbeitet. Das gilt übrigens auch für die akademische Welt, meinem beruflichen Zuhause.

Wie funktioniert das im Einzelnen?
Diese Szene legt sehr großen Wert darauf, dass man die richtige moralische Sensibilität zeigt, dass man die richtigen Vokabeln benutzt, dass man sprachlich streng gendert, dass man im Jargon der Eingeweihten spricht. Darüber werden dann Statuswettbewerbe ausgetragen. Das ist das Gegenteil einer inklusiven Gesellschaft, die sich da mit dem Champagnerglas in der Hand selbst feiert.

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