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Nepal

© laif

Nepal: Die Rätsel der Götter

Bergriesen, Dschungel und eine verwirrende Hauptstadt: Nepal gleicht einer Wundertüte.

Irgendwo da oben müssen sie doch sein. Angestrengt wandern die Augen den Himmel auf und ab. Es hilft nichts, die Riesen sind weg. Acht Achttausender liegen in Nepal – und nun ist nicht einer zu sehen. Die graue Dunstglocke über Kathmandu hat sie verschluckt. Vielleicht morgen, hofft ein Tourist. Doch Uttam, der nepalesische Guide, schüttelt den Kopf. „Man sieht sie nur im Winter, wenn die Luft klarer ist“, sagt er. Sein Englisch ist gut, und trotzdem sind seine Worte kaum zu verstehen. Kathmandu ist einfach zu laut. Lastwagen, Busse, Autos, Tuk-Tuks, diese dreirädrigen Gefährte und Mopeds zwängen sich durch die Straße hier im östlichen Stadtteil Battisputali – und alle hupen. Die unterschiedlichen Töne vermischen sich zu einer schrillen Kakofonie.

An der weitläufigen Tempelanlage Pashupatinath am Bagmatifluss verebbt sie. Hier ist Nepals hinduistisches Zentrum, hier verbrennen die Menschen ihre Toten und lassen die Asche danach ins schmutzige Wasser rieseln. Rätselhaft, verwirrend und bunt ist dieser Ort, so wie all die Götter, die sie in diesem Land anbeten. Shiva und Vishnu natürlich, und rund hundert andere Götter dazu. Obwohl nur 15 Prozent der Nepali Buddhisten sind, wird auch Buddha vom Gros der Bevölkerung verehrt. „Es kann nicht schaden, sich mit allen Göttern gut zu stellen“, erklärt ein Einheimischer. Sanft scheinen die Religionen hier zu verschmelzen, und die riesigen Augenpaare Buddhas, gemalt auf mächtige Türme, die Stupas, wachen darüber, dass es auch so bleibt.

Unter den Maoisten, die im April in die Regierung gewählt wurden, wird sich das nicht ändern. Und sonst? Die alte Regierung war korrupt, heißt es in Nepal, der abgesetzte König unbeliebt. „Die Menschen waren es leid“, sagt der Touristikunternehmer Bharat Basnet. „Sollen doch die Maoisten zeigen, dass sie es besser können“, sagt er. Und viele Nepali denken wie er, auch wenn sie wie Basnet glauben, dass hinter den Maoisten keine „klugen Köpfe stecken“. „Man muss abwarten“, sagt Basnet. Besorgt klingt es nicht. Viel problematischer sei die zunehmende Umweltverschmutzung in Nepal, findet er und macht sich stark für batteriebetriebene Tuk-Tuks – „600 davon fahren schon in Kathmandu“. Man müsse sich Gutes vom Ausland abschauen, Windkraft und Sonnenenergie nutzen und Plastiktüten verbieten. „Vielleicht“, so sinniert Basnet, „gibt es auch bei uns eines Tages eine grüne Partei.“

Am Durbar Square im Zentrum von Kathmandu hängen noch ein paar schon verblasste Hammer-und-Sichel-Fähnchen, sonst ist alles, wie es immer war. Dutzende Tempel und Pagoden drängen sich rund um den Platz, jeder Bau überreich verziert. Hier sind einzigartig geschnitzte Fenster zu bestaunen, da in Stein gehauene Elefanten oder drachenähnliche Löwen, dort Holzfiguren in freizügigen Posen. Die Kultur will in Muße studiert werden. Doch wie? Fußgänger, Radler und Mopeds schieben sich vorbei, man ist überall im Weg. Die Lösung: Die steilen Stufen der Maju-Deval-Pagode hinaufklettern, hoch oben Platz nehmen und das quirlige Durcheinander mit Abstand betrachten. Fragen über Fragen ergeben sich da, auf die man keine Antwort weiß.

Ob der kleine Junge jemals einen Beutel mit der rosa Zuckerwatte verkauft? An einem Stab, dreimal so hoch wie er selbst, trägt er sie vor sich her, treppauf, treppab. Was ist mit den beiden rotznasigen Kindern in den durchlöcherten Hosen? Haben sie ein Zuhause oder wenigstens einen Schlafplatz für die Nacht? Ein riesiges Grasbündel schiebt sich durch das Gewusel, darunter sieht man die Füße eines Menschen. Und jener Mann, auf dessen Rücken drei Matratzen geschnallt sind, wie hoch wird sein Trägerlohn sein? Hier türmen sich Berge von Gemüse, dort sind wohl hunderte bunter Stoffballen aufgeschichtet, wer soll das alles kaufen? Und dann diese Frauen! Wie schön sie sind, in ihren roten, blauen, grünen und gelben Saris! Kerzengerade und anmutig schreiten sie dahin, als wäre da ein Laufsteg unter ihnen und nicht schmutziggraues Pflaster.

Wer sich Tempeln, Pagoden und Göttern in Muße nähern will, fährt ins 30 Kilometer westlich gelegene Bhaktapur. Gleich drei Plätze, von herrlichen Gebäuden, umstellt hat die Stadt. Und: Das Zentrum ist autofrei. Während man den Milchtee im Tempelcafé Nyatapola trinkt, kann man Prozessionen beobachten, mal von Trommlern, mal von Gesang begleitet. Ist heute ein besonderer Tag? „Es gibt viele verschiedene Götter – und sie werden täglich verehrt“, sagt ein Holzschnitzer am Dattatraya Platz. Er gehört, wie die meisten Bewohner hier, zur Volksgruppe der Newar. Viele der Frauen tragen ihre typische Tracht: schwarze, bordeauxrot umrandete Saris, und auch die Männer sind eher traditionell gewandet. Bharat Basnet könnte zufrieden sein. „Wenn wir Tourismus wollen, müssen wir unsere Kultur erhalten“, hatte der Unternehmer gesagt. Denn welcher ausländische Gast hätte Lust, Menschen in Jeans zu fotografieren? „Das können sie ja auch zu Hause tun.“

In Bhaktapur steckt hinter jeder Ecke ein neues faszinierendes Motiv. Kinder schieben voller Eifer Korkfiguren auf einer großen Pappe am Boden hin- und her und versuchen den Fremden lachend die Spielregeln zu erklären. Hier bündeln Frauen Mais, um ihn zum Trocknen in den Dachgiebel zu hängen, dort recken sich mystische steinerne Schlangen aus einem Wasserbecken. Tasi Lama, auf dessen Visitenkarte „Artist Guru“ steht, winkt freundlich und möchte die für Nepal typischen Bilder, die Thankas, zeigen. Allerlei Götterfiguren rollt er auf und solche mit menschlichen Körpern, auf denen Energielinien und Akupunkturpunkte aufgemalt sind. „Jedes ist selbstverständlich ein Unikat“, sagt der Künstler. Auch dieses mit der grün wuchernden Flusslandschaft und dem Tiger mittendrin.

Gibt es das wirklich in Nepal? „Im Nationalpark Chitwan, in der Tiefebene Terai, sieht es genauso aus“, sagt Tasi Lama. Fünf Stunden soll die Autofahrt von Kathmandu dauern. Doch nur im Schneckentempo geht es heraus aus dem Kathmandu-Tal. 25 Kilometer lang und 15 Kilometer breit ist es und viel zu eng für all den Verkehr. Fast vier Millionen Menschen leben inzwischen hier. Viele hoffen, im Dunstkreis der Hauptstadt besser zurecht zu kommen als mit der harten Landarbeit, die wenig abwirft. So reihen sich rechts und links der Ausfallstraße kleine Werkstätten, Buden und Stände. Hier werden Reifen geflickt, da Körbe gestapelt, Decken ausgeschüttelt oder zum Verkauf ausgebreitete Sonnenbrillen geputzt. Eine große Reklametafel über einem Backsteinbau wirbt für „Shiva Fitness“, eine andere preist „Oh, my Chocofun“.

Sobald man das Tal verlassen hat, wird es ruhig. Am Fluss Trihsuli entlang führt die Straße, stattliche Berge mit grünen Reiseterrassen erheben sich, die angesichts der Himalaya-Riesen doch nur Hügel sind. Der Chitwan Nationalpark ist eine grüne Welt an einem trägen Fluss. Am besten ist er auf dem Rücken eines Elefanten zu entdecken. Drei Personen können Platz nehmen in dem Korb, der auf den Rücken des Tieres geschnallt ist. Dort oben schwankt und schaukelt es beträchtlich, doch: Man gewöhnt sich dran.

Der Elefantenführer sitzt dem Tier im Nacken und hat seine Füße hinter dessen Ohren platziert. Ein Stups nach rechts oder links, und der grauen Riese geht wirklich in die entsprechende Richtung. Unser ist weiblich und heißt Poonam Kali. „Wenn Sie Ihren Hut verlieren, no problem“, sagt der Führer lächelnd. Poonam Kali reiche alles wieder rauf. Zur Demonstration wirft er einen Kugelschreiber ins Gras und binnen Sekunden hält ihm die Elefantendame das Ding mit ihrem Rüssel wieder hin.

Von oben beobachten wir Panzernashörner beim Baden in einem Tümpel. Die Tiger, die es hier angeblich geben soll, verstecken sich. Ohne Scheu zeigen sich dagegen Dschungelhühner, Pfauen und giftgrüne Kragensittiche. Und wann hat man je so viele verschiedene, kunterbunte Schmetterlinge flattern sehen? 400 verschiedene Arten soll es in Chitwan geben.

Dutzende Camps gibt es rund um Park, aber manche haben nur vier Zimmer. So bleibt alles hier überschaubar. Am frühen Morgen, wenn die Touristen noch nicht mal beim Frühstück sind, schrubbt eine Frau unten am Fluss schon Wäsche auf einem runden Tisch – und sie singt dabei. Hunde liegen in der Sonne und ruhen sich aus vom nächtlichen Bellen. Grüne Pflanzen schwimmen auf dem Fluss vorbei, drei junge Männer bugsieren, miteinander lachend und plaudernd, einen Einbaum zum anderen Flussufer. „Namaste, Willkommen“, rufen sie der Fremden freundlich zu. Der Kellner der Sunset-Bar legt Kissen auf die Stühle der Aussichtsterrasse, damit die Touristen später bequem drauf sitzen können. Denn bald ist Showtime. Unter den Angeboten der Bar steht neben „Fresh fruitjuice“ und „Lassi Special“ auch „Elephant bath“.

Buddha Airways fliegt vom nahe gelegenen Flughafen Bharatpur zurück nach Kathmandu. Am blauen Himmel bauschen sich ein paar Wolken in pudrigem Weiß. Und dahinter gibt es welche mit schneeweißen Zacken. Und während man noch ungläubig hinstarrt, kommt die Stewardess, deutet durchs Fenster und sagt: "Das ist der Ganesh." 7422 Meter hoch sind seine eisigen Spitzen. Bevor wir noch einen Blick auf den 8163 Meter hohen Manaslu erhaschen können, geht die Maschine in den Sinkflug. Unten wartet das quirliglaute Kathmandu. Doch in den Ohren klingt das melodiöse Gezwitscher der Vögel von Chitwan nach.

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