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Ein Mann, ein Bike, eine Mission.

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Neun Tage Ultracycling in den Alpen: Ich war auf alles vorbereitet, aber nicht auf dieses Wetter

Unser Autor ist ein Radrennen von Wien nach Nizza gefahren. 2200 Kilometer voller Glück, Schweiß und Tränen. Es war auch eine Fahrt zu sich selbst.

Stand:

Jetzt sitze ich hier. Verschwitzt. Verzweifelt. Verheult. Mein linkes Bein ist nicht mehr belastbar. Ich selbst bin das schon lang nicht mehr. Es musste ja unbedingt der Rheinfall sein. Rundherum: Touristen. Große Kameras, kleine Kinder. Alle wollen das perfekte Foto, alle lachen. Nur ich nicht. Ich will heim. Oder besser: zurück. Auf Anfang.

Wien, vier Tage zuvor. Ich stehe am Start des Three Peaks Bike Race am Schloss Schönbrunn. Circa 2200 Kilometer nach Nizza durch die Alpen über – der Name lässt es erahnen – drei Gipfel, von Ost nach West. Was in Wirklichkeit bedeutet: ungleich mehr Pässe. Hitze, Regen, Schnee, Schlafmangel, Krämpfe.

Das Rennen gehört seit 2018 zu den bekannteren im Ultracycling, also extrem langen Radrennen. Ein „Self Supported“-Wettbewerb, der simplen Regeln folgt: Finde selbst den Weg zwischen drei Checkpoints. Hilfe von außen gibt es keine, nur du und dein Rad. Etwa 280 Teilnehmer suchen genau diese Herausforderung. Die einen wollen es als erste an die Promenade des Anglais schaffen, die anderen einfach nur irgendwie ankommen. Am Meer und bei sich selbst. Für mich ist Rennradfahren eine Art krankenkassenbefreite Kurzzeittherapie. Der Kopf geht auf, alles hinaus, Kopf wieder zu. Genau das möchte ich die nächsten zehn Tage.

Kurz bevor Michael, der Veranstalter des Rennens, die Fahne schwenkt, schalte ich das Telefon in den Flugmodus. Die Arbeitsapps sind alle gelöscht, es geht los. Seit sechs Monaten läuft mein Training auf diesen Moment zu. Jetzt ist er da. Und ich fühle: Nichts.

Auf Los gehts los!

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Am Fluss fahre ich raus aus der Stadt hinein in den Wienerwald. In Mariazell fragt einer: „Hast du gesehen? Es gibt gleich Gewitter.“ Zehn Kilometer weiter ist der Himmel stockfinster. Erhellt von Blitzen und lautem Donner.

Three Peaks Bike Race – Flucht vor dem Regen

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Unter dem Dach eines Stolleneingangs finde ich Unterschlupf mit zwei Mitstreiterinnen. Gemeinsam warten wir das Unwetter ab.

Three Peaks Bike Race – Nach dem Gewitter

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Bald verglühen die Blitze, aber der Regen bleibt. Vorsorglich ziehe ich die Hotelbuchungs-App auf die Startseite. Eigentlich wollte ich die erste Nacht draußen schlafen. Stattdessen wähle ich ein Hotel in Leoben und beende durchnässt den ersten Tag. Für meinen Geschmack viel zu früh.

Nach dreieinhalb Stunden Schlaf starte ich mit der aufgehenden Sonne in den Tag. Rechts die Formel 1-Strecke, links und überall die Steiermark. Ossiacher See 20 km. Vor 40 Jahren war ich hier im Urlaub mit meinen Eltern. Heute schaue ich stoisch auf die Straße. Richtung Kärnten werden nicht nur die Berge, sondern auch die Wolken wieder höher. Und dunkler. Die Wetterapp sagt: Das wird wieder nichts mit einem Schlafplatz im Freien.

Ciao Italia – Der erste Grenzübergang.

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Ich buche ein Zimmer in Tarvisio. Richtung Süden erhasche ich einen Blick auf die schroffen Karawanken. Der erste Grenzübergang von acht. Ciao Italia! Kurz darauf öffne ich mein Hotelzimmer und der Himmel seine Schleusen.

Tag drei beginnt nahtlos mit dem Weltuntergang vom Vorabend. Doch wenn ich jetzt nicht losfahre, was mache ich dann überhaupt hier? Ultracycling bedeutet eben auch, bei allen Widrigkeiten zu fahren.

Three Peaks Bike Race – Am Alpe Adria Radweg

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynki

Es gewittert auf dem Alpe-Adria-Radweg. Blitz links, Donner rechts. Immerhin warm ist es.

Three Peaks Bike Race – Der Einstieg zum Zoncolan

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Das Ziel heute ist der Monte Zoncolan. 1750 m hoch mit Steigungen von bis zu 22 Prozent. Er gilt als einer der schwierigsten Anstiege der Alpen und bereits in Wien wurde im Fahrerfeld die Variante Schieben präferiert. Tue ich. Zumindest abschnittsweise.

Auf der grotesk steilen Auffahrt plötzlich ein Schrei. Eine Fahrerin hinter mir kippt einfach um. Liegt auf der Seite, Klickschuhe noch in den Pedalen. „Alles in Ordnung?“, rufe ich. „Alles gut!“ Sie lacht. Oder weint. In diesen Tagen vermischen sich die Emotionen.

Irgendwann bin ich oben am Berg, am ersten Checkpoint, habe das Monster niedergerungen. Kurz die Aussicht wahrnehmen, jetzt kann kommen, was will. Regen zum Beispiel. Über den nächsten Pass hinein ins Südtiroler Pustertal, ins nächste Unwetter. Sturm, Blitze. Bis Bruneck sind es noch 30 Kilometer. Keine Entfernung an normalen Tagen. Heute dank gesperrter Radwege und Trampelpfadalternativen eine Ewigkeit.

Auf alles war ich vorbereitet. Defekte, Infekte, Dämonen. Aber nicht auf drei Tage Regen.

Tags darauf macht sogar das Gerücht von Schnee am österreichischen Arlbergpass die Runde, meiner nächsten Station. So sind die Alpen selbst im Sommer. Während der Gegenwind versucht, mich zurück nach Südtirol zu drücken, trete ich unbeirrt in die Pedale. Auf dem Brenner setze ich mich trotzig in die Bar Anita und erzähle jedem, der es nicht hören möchte, dass ich die nächsten vier Stunden bei Bauerntoast und Cappuccino verbringen werde. Zwei Stunden später fahre ich runter nach Innsbruck. Der Regen hört bald auf. Nass bin ich trotzdem. Gefrustet mache ich das, was ich mittlerweile am besten kann: Ich buche ein Hotel am Arlberg.

Am nächsten Morgen stehe ich auf dem Pass. Um mich herum Schneeregen knapp über dem Gefrierpunkt. Es ist bitterkalt. Wie gut, dass ich mir die glitzernde Rettungsfolie unter das Trikot und in die Schuhe gestopft habe. Wie schön es hier doch sein muss. Schnell weiter in die nächste Krise.

Ein Glück. An die Rettungsfolie wurde gedacht.

© Tagesspiegel/Kostrzynski

Obwohl später die Sonne rauskommt, wird es für mich dunkel. Auf der Abfahrt kann ich nicht mehr bremsen. Die Finger sind eingefroren. Mein linker Oberschenkel meldet sich das erste Mal, als ich den Bodensee erblicke. Hin- und hergerissen zwischen Landschaftsbewunderung und Resignation fahre ich weiter und fange an zu zweifeln. Nicht an der Strecke. An mir. Ob das hier nicht doch eine Nummer zu groß war. Ob ich vielleicht gar nicht der bin, für den ich mich gehalten habe. 

Und dann sitze ich da am Rheinfall. Ich kann nicht mehr. Zwischen Touristen beschließe ich den Abbruch. Eine letzte Nacht im Hotel. Morgen noch der Feldberg. Immerhin. Und dann nach Hause. Ende.

Das Ende ist nah!

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynki

In der Morgendämmerung setze ich mich zum Abschied aufs Rad, treffe an der nächsten Kurve zwei Mitfahrer:innen. Wir reden, fahren, lachen. Plötzlich stehe ich oben auf dem Feldberg. Im Westen die Vogesen. Im Norden der Schwarzwald. Und im Süden: Die Gipfel der Alpen. Der Schmerz, der Zweifel – sind unten im Tal geblieben. Und etwas in mir sagt: Jetzt! Weiter! Ade Checkpoint Zwei! Für mich gibt es jetzt nur noch ein Ziel: Nizza.

Gemeinsam auf den Belchen.

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Hinein in die Schweiz. Das Wetter ist perfekt, heute werde ich endlich das erste Mal draußen schlafen. Kurz vor dem Tagesziel Solothurn übermannt mich die Erschöpfung. Ich stelle mir den Wecker auf vier Uhr und schlafe sofort ein.

Endlich draußen schlafen

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

In der Dämmerung des nächsten Morgens erkenne ich weit hinten die Berner Alpen. Eiger, Jungfrau und Mönch. Ich möchte stehen bleiben und kann nicht. Entlang des Schweizer Jura fahre ich, mal allein, mal in Gesellschaft über Lausanne an den Genfer See. Die Mangelware Sonne gibt es nun im Überfluss, ich beginne unter der Hitze zu leiden. Hinein nach Genf und schnell wieder hinaus. Heute bin ich nur Durchreisender. Kurz nach Annecy biege ich um einen Bergrücken und bremse abrupt. In der Abendsonne erhebt sich vor mir majestätisch der Mont Blanc. Bis hierhin bin ich gekommen. Mit dem Rad.

Am nächsten Tag rasen die Eindrücke an mir vorbei. Endlose Bundesstraßen, ein Holländer, der in einem vergessenen Bergdorf ein Fahrradcafé betreibt und mich mit Kaffee rettet. Gegenwind am Mont Cenis. Eine Französin zieht mich die letzten Meter hinauf. Auf der Abfahrt fallen mir die Augen zu.

Kein guter Ort für einen Powernap.

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynki

Wieder Gewitter, ich suche mir mit Mitfahrern einen Unterschlupf in einer Felshöhle. Denke bei jedem Blitz an die, die gerade oben am Pass sind. Nach einer Stunde geht es weiter. Mit wachsender Furcht erreiche ich das Tagesziel: den Colle delle Finestre, Checkpoint Drei. Lauter Donner. Schnell hinunter in den nächsten Ort, um ein Nachtlager zu finden.

Kurz vor dem Gewitter am Colle vorbeihuschen

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Drei Stunden unruhiger Schlaf. Bis Nizza ist es nicht mehr weit, 450 Kilometer. Ein letztes Mal überquere ich eine Grenze und erreiche Frankreich. Schlagartig wird mir klar: Das hier ist der vorletzte Tag. Zum ersten Mal pflanzt sich mir der Gedanke ein: Bitte lass es nicht aufhören. Nicht heute, nicht morgen. Es soll einfach immer weitergehen.

Immerhin die Kamera hält alles fest. Sisteron.

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Der Hintern schmerzt, die Muskeln laufen auf halber Kraft, meine Finger sind taub. Abends quäle ich mich einen der letzten von insgesamt – kein Witz – neunzehn Pässen hinauf. Der Geruch von Lavendel liegt in der Luft. Provence. Erschöpft falle ich in eine Auberge, in der ich noch etwas zu essen bekomme. Eine Mitstreiterin fährt vorbei, winkt und setzt sich zu mir. Plötzlich ist sie wieder da, die Energie – und gemeinsam beschließen wir, noch weiterzufahren, in Richtung der Gorges de Verdon, eine der größten Schluchten Europas.

Die Provence hält was sie verspricht.

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Am Vorabend des Nationalfeiertags spielt sich das Leben in Frankreich auf der Straße ab. Die Restaurants sind gefüllt, überall Menschen. Als wir um eine Ecke biegen, ist dort ein Musikfestival. Es ist surreal. Seit acht Tagen quälen wir uns durch die Berge. Kann davon bitte jemand Notiz nehmen?

Zitternd verbringe ich im Halbschlaf die letzte Nacht auf einem Dorfparkplatz.

Three Peaks Bike Race – 

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Mit einsetzender Dämmerung holen mich die Fahrerin und ein weiterer Mitstreiter ein. Wir beschließen, zu dritt durch die Schlucht in den Sonnenaufgang zu fahren.

Three Peaks Bike Race – 

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Die nächste Stunde – die wird bleiben. Für immer. Wie eingebrannt. An jeder Bellevue bleiben wir stehen. Blicke in die Schlucht. Es ist unwirklich. Nie war es so schön.

Three Peaks Bike Race – 

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Wir fahren ein Stück hinab, die Landschaft öffnet sich. Und ich lasse los. Alles verdichtet sich auf diesen einen Moment. Das Wetter, der Schmerz, die Zweifel, das ganze Warum. Alles löst sich auf. An diesem Ort. Ich bremse. Schaue. Und weine.

Noch 100, 70, 40 Kilometer. Ich beginne das Meer zu riechen, passiere die Stadtgrenze von Nizza. Sechs Kilometer auf der Promenade des Anglais. Das Ziel!

Ich bekomme ein Bier gereicht und stehe dort. Schaue ungläubig auf die Bucht, mein Rad, meine Hände. Alles ist still um mich. Ich bin angekommen. Wo, weiß ich im Moment noch nicht.

Das Ende. Ein Anfang.

© Foto: Tagesspiegel/Kostrzynski

Nächstes Jahr endet das Three Peaks in Barcelona. Dort war ich noch nie.

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