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© Getty Images/Orbon Alija

„Stadtbild“-Aussage des Bundeskanzlers: Hat Friedrich Merz auch mich gemeint?

Mit einem Halbsatz hat der Bundeskanzler eine Linie gezogen – zwischen angeblich echten Deutschen und allen übrigen. Unser Autor sieht sich und Millionen Menschen hierzulande rassistisch ausgegrenzt.

Ein Gastbeitrag von Asif Malik

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Ein vertrautes Bild am Hauptbahnhof: eine Traube junger Männer, Stimmengewirr, Plastiktüten, Energydrinks. Daneben eine Frau mit Kopftuch, die ihr Kind auf den Arm nimmt. Ein Mann mit Turban, der ruhig an der Haltestelle steht. Zwischen ihnen Pendler, Touristinnen, Geschäftsleute. Ein gewöhnlicher Nachmittag in einer deutschen Großstadt – und doch scheint sich in diesem Gewimmel ein unsichtbarer Riss zu öffnen. Für die einen ist es das lebendige Gesicht einer vielfältigen Gesellschaft. Für andere das „falsche“ Stadtbild.

Diesen Begriff nutzte Bundeskanzler Friedrich Merz letzte Woche in einer Pressekonferenz beinahe beiläufig, als er sagte: „Wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem.“ Eigentlich sprach er über Asylanträge und Rückführungen – doch der Satz wurde zugleich zur Chiffre für alle, die „anders“ sind.

Dass es Probleme in deutschen Innenstädten gibt, ist unbestritten: Verwahrlosung, Drogenkonsum, Gewalt. Vieles davon ist eine Folge politischer Versäumnisse und überforderter Kommunen. Natürlich darf, ja, muss darüber gesprochen werden. Aber Merz hat etwas anderes getan. Er hat nicht über Ursachen geredet, sondern über Anblicke. Nicht über Kriminalität, sondern über Wahrnehmung.

Wer Vielfalt als Bedrohung empfindet, reagiert nicht auf Migration, sondern auf den Verlust einer Hierarchie, die einst selbstverständlich schien.

Asif Malik, Autor

Damit hat er eine neue Linie gezogen: nicht mehr zwischen legaler und illegaler Migration, sondern zwischen denjenigen, die als „deutsch“ gelten dürfen, und den anderen, die zwar dazugehören, aber im Bild falsch erscheinen. Das „Stadtbild“ tut, was das Schlagwort „Remigration“ auch tut: Es löst die Unterscheidung zwischen Geflüchteten und Deutschen mit Migrationsgeschichte auf und ersetzt sie durch eine andere – zwischen angeblich echten Deutschen und allen übrigen. Man nennt das Rassismus.

Die Reaktionen folgten prompt. Die AfD frohlockte. Der Chefredakteur der „Welt“ schrieb, eine „schweigende Mehrheit“ fühle sich endlich verstanden. So wurde aus einem Satz über Asylpolitik ein Code für Zugehörigkeit und ein Resonanzraum für Ressentiments.

Dabei ist das, was Merz formuliert, im Kern eine Theorie – und zwar die dunkelste, die in der Migrationsdebatte bislang Raum gewonnen hat: dass es ein Problem gebe, das sich nicht durch Integration, Bildung oder Sicherheitspolitik lösen lässt. Dass zu viele Menschen da seien, die anders aussehen, heißen, sprechen. Kurz: dass das Problem nicht im Verhalten liegt, sondern im bloßen Dasein.

Wer stört im Stadtbild? Menschen laufen über eine Brücke am Bahnhof Warschauer Straße in Berlin.

© Imago/Jochen Eckel

Doch im Stadtbild erkennt man keinen Aufenthaltsstatus, keine Strafakte, keine Absicht. Man sieht nur Menschen – durch die Brille des eigenen Vorurteils.

Ich frage mich, ob Merz auch mich gemeint hat. Ich bin Diplom-Betriebswirt, habe einen MBA, leite eine Personalberatung in Hamburg. Ich zahle Steuern, schaffe Arbeitsplätze, führe Verhandlungen mit CEOs. Und doch weiß ich: Wenn ich in T-Shirt und Sneakers durch die Innenstadt laufe, falle ich in dasselbe Raster. Dann bin ich nicht der Geschäftsführer, nicht der Autor – sondern ein Mann mit dunklem Bart. Ein Teil jenes Stadtbildes, das angeblich nicht mehr „stimmt“.

So gesehen trifft die Aussage von Merz nicht nur Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten, sondern uns alle, die man für „irgendwie anders“ hält. Den Arzt, der in Zivilkleidung spaziert. Den Busfahrer mit türkischen Eltern. Ich kenne Ärztinnen, Juristinnen, Lehrerinnen – kluge, gebildete Frauen, die mitten im deutschen Leben stehen und ein Kopftuch tragen. Bildungsbürgerinnen, die Goethe zitieren können und Kant gelesen haben und die dennoch an Bahnhöfen misstrauische Blicke ernten. Wer meint, das Stadtbild sei „nicht in Ordnung“, meint am Ende auch sie.

Politik, die solche Unsicherheiten schürt, wird niemals in der Realität dieses Landes ankommen.

Asif Malik, Autor

Fast jeder Dritte in Deutschland hat heute eine Migrationsgeschichte. Jeder Achte spricht zu Hause eine andere Sprache als Deutsch. Diese Gesellschaft wird nie wieder so aussehen wie in den Fünfzigern oder Achtzigern. Barbershops, Shishabars, Moscheen – sie sind keine Übergangsphänomene, sondern Ausdruck einer Realität, die bleibt.

Was Merz beschrieben hat, ist kein politisches, sondern ein psychologisches Phänomen: eine Projektion von Verunsicherung. Wer Vielfalt als Bedrohung empfindet, reagiert nicht auf Migration, sondern auf den Verlust einer Hierarchie, die einst selbstverständlich schien. Dieses Gefühl lässt sich nicht einfach „rückführen“.

Politik, die solche Unsicherheiten schürt, wird niemals in der Realität dieses Landes ankommen. Als direkte Folge werden heute selbst Begriffe wie Toleranz und Vielfalt mit Misstrauen betrachtet – als naive Weltfremdheit, als Synonym für Schwäche. Dabei war genau diese Haltung es, die unser Land stark und gesellschaftlichen Zusammenhalt möglich machte.

Vielleicht verändert sich etwas, wenn ein Mann mit Turban oder eine Frau mit Kopftuch nicht länger als Symbol gedeutet werden, sondern einfach als Mensch. Wenn der Blick sich löst von Herkunft, Religion oder äußeren Merkmalen und sich dem Gegenüber zuwendet. Dann entstünde ein wirklich neues Stadtbild – das Vielfalt nicht nur zeigt, sondern sie selbstverständlich macht. Und eines, das Deutschland besser stünde.

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